Unter den zahlreichen architektonischen Konzepten und utopischen Theorien nimmt die Idee einer linearen Stadt, die aus langen Straßen besteht, einen besonderen Platz ein. Sie entstand bereits im 19. Jahrhundert, weckte aber das Interesse der Architekten erst in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in der Sowjetunion. So schlug Nikolai Ladowskij vor, Leningrad (heute St. Petersburg) und Moskau durch eine Änderung des Straßennetzes zu verbinden: Die langgestreckte Hauptstraße Twerskaja uliza sollte zur Hauptmagistrale der Stadtentwicklung und zur Verbindungsachse der beiden Hauptstädte werden.
Der Architekt und Stadtplanungstheoretiker Nikolai Miljutin stellte 1930 in seinem berühmten Buch Sozgorod (dt.: Sozialistische Stadt) sein eigenes Konzept einer linearen Stadt vor. Es basierte auf der Idee, die Industrie zu dezentralisieren und Wohngebiete gegenüber den Fabrikkomplexen zu errichten. Dank dieser Struktur könnte die Stadt unbegrenzt wachsen, ohne dass es zu einer Überverdichtung käme. Alle diese theoretischen Projekte verließen jedoch nie das Papier, obwohl sie zu verschiedenen Zeiten viele Anhänger hatten.
Das Wolgograd-Experiment
Die Verwirklichung der Idee einer linearen Stadt ist in Russland nur einmal gelungen. Der Ort für ein groß angelegtes urbanes Experiment war Wolgograd. Die langgestreckte Form erhielt die Stadt im 16. Jahrhundert dank ihrer historischen Lage an den Ufern der Wolga. Diese Struktur war notwendig, um die von den örtlichen Fabriken und Handwerksbetrieben hergestellten Waren auf dem Fluss zu transportieren. Um diese Industriezentren herum bildeten sich die Wohnviertel, die sich am Fluss entlang aneinanderreihten. Dieses Prinzip der Stadtentwicklung wurde auch nach der Revolution beibehalten. Neue Stadtteile, die als Arbeitersiedlungen entstanden, erstreckten sich entlang des Flussufers auf einer Länge von bis zu 30 km.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde mehr als die Hälfte aller Bauten in Stalingrad (so hieß die Stadt von 1925 bis 1961) zerstört. Das verheerendste Ereignis war die berühmte Schlacht von Stalingrad, bei der ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht wurden. Aber auch in der Nachkriegszeit entwickelte sich die Stadt linear weiter. Gemäß dem Masterplan von 1945 wurde der Uferstreifen von Industrieanlagen, Lagerhäusern und militärischen Einrichtungen geräumt, die die Wohngebiete von der Wolga abgeschnitten hatten.
Große Baustelle
Das größte Bauwerk der Nachkriegszeit befindet sich auf dem Mamajew-Hügel am Wolgaufer, wo am 15. Oktober 1967 das Denkmal Für die Helden der Schlacht von Stalingrad enthüllt wurde. Der Bildhauer Jewgeni Wutschetitsch, der Architekt Jakow Belopolskij und der Bauingenieur Nikolai Nikitin, einer der Schöpfer des Ostankino-Fernsehturms in Moskau, arbeiteten an seiner Gestaltung. Da das Denkmal von der Firma Stalingradgidrostroj errichtet wurde, die auch das Wolga-Wasserkraftwerk gebaut hat, wurden die gleichen Materialien – Beton, Stahl und Granit – verwendet.
Vor Baubeginn wurde der Mamajew-Hügel mehrere Monate lang von Minen, Granaten und Fliegerbomben geräumt. Darüber hinaus wurden Massengräber freigelegt und in das benachbarte Gebiet verlegt. Anschließend legte man auf dem bereinigten Gelände künstliche Wälle und Böschungen an und es wurden die Pfeiler und Fundamente des Hauptmonuments errichtet.
Auf dem Mamajew-Hügel wurden mehrere Objekte errichtet: die Skulptur Stojatj nasmertj (dt.: Kampf um Leben und Tod), die Ruinenmauern, die Halle des militärischen Ruhms und das Denkmal Rodina-matj sowjot! (dt.: Mutter Heimat ruft!). Letzteres war seinerzeit die höchste Skulptur der Welt und wurde sogar in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen. Das Denkmal hat eine Gesamthöhe von 85 Metern und eine Länge von 52 Metern. Ursprünglich sollte es nur halb so hoch sein, doch auf Wunsch von Partei-Chef Nikita Chruschtschow „streckte“ Wutschetitsch die Figur, damit sie größer als die amerikanische Freiheitsstatue wurde.
Im Jahr 2010 wurde Wolgograd um 28 Siedlungen und die Sarpinski-Insel erweitert, was die Konfiguration der Stadt auf der Landkarte veränderte, aber das Prinzip der linearen Entwicklung bleibt auch weiterhin beibehalten. Heute erstreckt sich die Stadt über 90 km entlang des Wolga-Ufers und nimmt eine Fläche von 565 km2 ein. Dank dieser räumlichen Anordnung entstand hier auch die längste Straße Russlands – die Prodolnaja-Straße ist mehr als 50 km lang!