Während wir die kurvige Straße durch das Sajan-Gebirges in Südsibirien bewältigen, weicht der Wald allmählich den nackten Hügeln. Nach einer 14-stündigen Fahrt von Krasnojarsk aus kommt mein Bus schließlich in Kysyl, der Hauptstadt von Tuwa, an.
Diese Republik vor den Toren der Mongolei ist eine der abgelegensten Ecken Russlands. Sie ist nicht nur nicht an das nationale Eisenbahnnetz angeschlossen, sondern hatte bis 2015 auch keine direkte Flugverbindung nach Moskau.
Um ehrlich zu sein, genießt Tuwa einen schlechten Ruf. In der Gesamtwertung der russischen Regionen liegt sie hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Situation mit Abstand an letzter Stelle, mit den schlechtesten Werten für Kriminalität, Armut, Lebensqualität und Lebenserwartung und einem der schlechtesten Werte in Bezug auf Arbeitslosigkeit und Alkoholismus. Interessanterweise ist die Geburtenrate jedoch die höchste in Russland.
Unruhige Geschichte
Mit einer gewissen Beklommenheit habe ich mich auf den Weg gemacht, um dieses geheimnisvolle Land, das für seine atemberaubenden Landschaften und seine ausgeprägte Kultur bekannt ist, endlich zu erkunden, so wie ich es schon jahrelang vorhatte. Im Kernland leben etwa 120.000 Menschen.
Hier haben die Gesichter asiatische Züge. Stellten die ethnischen Russen 1959 noch 40 Prozent der Bevölkerung Tuwas, so waren es 2010 nur noch 16 Prozent, was auf ihre Abwanderung in andere Regionen und die hohe Geburtenrate der Tuwiner zurückzuführen ist.
Viele ethnische Russen berichten von den Schwierigkeiten, in dieser Region zu leben, die dazu bestimmt zu sein scheint, am Rande der Welt zu bleiben. Viele Einheimische, vor allem die Jüngsten, beherrschen die russische Sprache kaum oder gar nicht, und das Erlernen der russischen Sprache erfolgt oft auf Tuwinisch, wie eine Fremdsprache.
Tuwa hat eine bewegte Geschichte. Früher wurde es von mongolischen Nomaden beherrscht, stand von 1758 bis 1912 unter der kaiserlichen Ägide Chinas und wurde später in das Russische Reich integriert. Unter dem Namen Tannu Tuwa (1921-1944) erlebte es auch seine Unabhängigkeit, bevor es Teil der UdSSR und später der Russischen Föderation wurde.
Tuwinische Schätze
Diese turbulente Vergangenheit erklärt sich durch die Lage des Gebiets. Kysyl scheint der geografische Mittelpunkt des asiatischen Kontinents zu sein, ein Merkmal, das durch einen eleganten Obelisken am Ufer des mächtigen Jenissei-Flusses, dessen Quelle nicht weit entfernt liegt, gefeiert wird.
In den Straßen ist die asiatische Symbolik allgegenwärtig. Das Shou, eine grafische Darstellung der Langlebigkeit, ziert Zäune, Bänke und Balkone im Schatten der geschwungenen Dächer, während der buddhistische Einfluss, die hier vorherrschende Religion, deutlich spürbar ist.
Die Einheimischen sind stolz auf ihre Kultur, und das Nationalmuseum von Tuwa ist der Beweis dafür. Hier werden uralte Relikte und moderne Kunstwerke ausgestellt, die noch immer vom Geist der Nomaden, der Freiheit der Steppe und der Weisheit der Götter inspiriert sind.
Auch unschätzbare Schätze werden hier gehütet: Skythische Artefakte, die im „Tal der Zaren“, einer bedeutenden archäologischen Fundstätte in Tuwa, entdeckt wurden. Diese Goldschmuckstücke aus der Zeit vor fast 3.000 Jahren sind so raffiniert, dass ihre Herstellungstechniken noch immer nicht erforscht ist
Buddhistische Landschaften
Tuwa ist auch die Heimat atemberaubender Landschaften, die von einem ausgeprägten Relief und der Weite der Steppe geprägt sind. Nur zehn Minuten vom Stadtzentrum Kysyls entfernt können Wanderer ein Meer von Hügeln und Bergen bewundern, die unter der unbarmherzigen Sonne zu schmelzen scheinen.
Nachdem ich im Hochsommer unter einer erdrückenden Hitze gelitten habe, bietet mir der Aufstieg auf den heiligen Berg Dogee ein unvergessliches Schauspiel: Kysyl liegt unter mir und dehnt sich wie eine Oase aus, während an der Seite eines anderen Berges das größte buddhistische Mantra der Welt erscheint.
Wie anderswo in Sibirien ist der Buddhismus auch hier stark vom Schamanismus beeinflusst. Auf dem Gipfel des Dogee ist ein Mast mit Hunderten von Gebetsfahnen aufgehängt, während sich die Wege zwischen den Ovaas, kleinen Steinpyramiden zu Ehren der Erdgeister, schlängeln.
Im September 2021 wurde auf einem der Dogee-Gipfel eine neun Meter hohe Buddha-Statue aufgestellt, die auf dem 12 Meter hohen Postament sitzt und über die tuwinische Hauptstadt wacht. Sie wird vom Summen seltsamer Insekten eingelullt.
Kein einziger Baum, kein Schatten; die Umgebung von Kysyl ist rau und kahl. Ein schlichter Anblick, dem es aber keineswegs an Poesie fehlt. Der Blick wandert zwischen dem Horizont und den runden Linien dieser Weite, die die Nomaden schon tausendmal durchquert haben.
Der Abschied
Durstig, aber voller Gelassenheit, kehre ich schließlich in die Stadt zurück, wo sich meine Abreise abzeichnet. Zum letzten Mal komme ich am zentralen Platz vorbei. Eine Lenin-Statue, ein sowjetisches Relikt, steht an der Seite, während eine majestätische buddhistische Gebetsmühle und ein monumentales Theater, das direkt aus Tibet zu kommen scheint, in der Mitte stehen.
Als ich gerade in den Bus einsteigen will, bemerke ich einen Raubvogel auf dem Dach, der mir gegenüber sitzt. Ist es einer von denen, die mich bei meiner Entdeckung von Kysyl begleitet haben, die in der Nähe meines Hotelbalkons oder über den Gipfeln während meiner Wanderung in den Bergen schwebten?
So verlasse ich unter dem wohlwollenden Blick dieses heiligen Wächters Tuwa, von dem man mir zwar geraten hatte, vorsichtig zu sein, das mich aber begeistert hat. Schließlich verabschieden sich die Berge von mir, die in ein bezauberndes nächtliches Licht getaucht sind, wie die Gemälde von Roerich.