„Musik hat mich hierhergeführt“, sagt Sean Quirk, ein intelligenter, rothaariger Mann mit Brille aus Kysyl, der Hauptstadt der russischen Republik Tuwa. Er wurde in Milwaukee, im US-Bundesstaat Wisconsin, geboren. Heute sorgt er dafür, dass im örtlichen Kulturzentrum lokale Traditionen gepflegt werden. Er spielt ethnische tuwinische Musik und widmet sich dem Hals- oder Kehlgesang.
1999 hörte er ein Album einer Band aus Tuwa namens „Huun-Huur-Tu“ und „verliebte sich in diese Musik“, wie er selbst sagt. Es ist eine der bekanntesten russischen Folk-Bands der Welt, die den Kehlgesang praktiziert.
„Viele Leute, die diese Art von Musik hören, versuchen es nachzumachen, das ist ganz normal“, erzählt Sean. Auch ihm ging es so: „Ich habe versucht und versucht und versucht, diese Musik zu machen, bis ich [2003] als 25-jähriger Fulbright-Stipendiat nach Russland kam.“
Sean lebt auch 17 Jahre später immer noch in Russland. Ein Musikliebhaber war er schon sein ganzes Leben lang. Er ist ein begeisterter Saxophonist, Flöten- und Klarinettenspieler. In Kysyl lernte er volkstümliche Instrumente kennen und die Technik des Kehlgesangs.
Etwa 12 Jahre lang war er Musiker im Nationalorchester von Tuwa. Vor und nach ihm hat es keine ausländischen Musiker im Ensemble gegeben. Sean ist der einzige ausländische Künstler, der den Ehrentitel „Verdienter Künstler“ in Tuwa trägt.
Als in Tuwa vor fünf Jahren ein Kulturzentrum eröffnet wurde, bekam er das Angebot, dort zu arbeiten. Er verließ das Orchester. Im Zentrum ist sein offizieller Titel „Künstler und Kehlsänger“, doch man nennt ihn auch „Perechodnik“, denn er ist der Mann für alle Fälle: er repariert die Computer, unterrichtet Musik, organisiert internationale Festivals und moderiert große Veranstaltungen.
Außerdem ist er der Produzent des Alash-Ensembles, das ethnische Musik spielt. Das Ensemble geht mehrmals im Jahr auf internationale Tourneen. Für Sean ist das auch die Gelegenheit, seine Eltern in den USA zu besuchen. „Sie sind große Unterstützer von mir und der Tuwa-Kultur“, sagt er.
Bevor Sean hier ankam, hatte er gerade ein Jahr lang Russisch gelernt. Er erkannte jedoch, dass er Tuwinisch lernen musste, um die Kultur des Volkes zu verstehen.
„Die gesamte Terminologie für den Halsgesang ist schwer zu übersetzen. Es wird meist als Gesangsstil übersetzt, doch es sind verschiedene Vokalinstrumente. Es gibt auch im Ausland Variationen des Kehlgesangs, doch der tuwinische ist ganz anders“, erklärt er.
Daher beschloss er, von Russisch auf Tuwinisch als Hauptsprache zu wechseln. „Nur drei Monate später war mein Tuwinisch besser als Russisch. Ich bin vom ersten Tag an darin eingetaucht“, so Sean.
Er ist nicht der einzige Ausländer, der von dieser Region fasziniert ist. „Eine Japanerin lebt seit über zehn Jahren hier. Sie studierte an der Kunsthochschule und lernte noch eher Tuwinisch als Russisch. Die Leute lachen, wenn wir uns treffen: Ich spreche nicht sehr gut Japanisch und ihr Englisch ist nicht so gut, also sprechen wir Tuwinisch miteinander“, erzählt er.
In Kysyl traf er Swetlana und inzwischen ziehen sie vier Mädchen und einen Jungen zusammen groß. Sie haben tuwinische Vornamen, US-amerikanische Nachnamen und nach russischer Tradition tragen sie den Vatersnamen „Seanowitsch“. Seans Familie ist dreisprachig, doch Tuwinisch sei die wichtigste Sprache für sie, betont Sean.
„Tuwa ist die einzige sibirische Region, in der die indigene Bevölkerung immer noch die Mehrheit stellt und in der die meisten Menschen zu Hause Tuwinisch sprechen. Russisch ist die Amtssprache“, sagt Sean. „Allerdings gibt es keinen tuwinischen Fernsehkanal und nur sehr wenige Cartoons. Auch YouTube macht niemand auf Tuwinisch.“
„Wenn ich Leuten in den USA erzähle, dass ich jetzt in Sibirien lebe, denken sie, dass es sehr kalt ist und es viele Bären gibt!“, sagt Sean.
Aber auch in Tuwa ist er vor Vorurteilen nicht sicher „Die Menschen hier sagen normalerweise zu mir: ‚Sie sind anders als wir dachten und anders als Amerikaner im Fernsehen gezeigt werden.‘ Das macht mich froh“, so Sean. „Eines der beliebtesten Vorurteile über Amerikaner ist, dass sie groß und sehr dick sind und rücksichtslos. Natürlich hat jedes Vorurteil auch einen wahren Kern. Doch im Grunde sind Menschen überall einfach nur Menschen.“
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!