Gerry aus Deutschland: Wie Russen mein Leben veränderten

Aus dem persönlichen Archiv
Gerry aus Deutschland erzählt, wie er durch Dostojewski Russlands Seele entdeckt hat.

Russland in 50 Tagen

Meine Reise begann im Jahr 2013 in Deutschland und endete in Japan. Ich erinnere mich noch an die Überlegungen, welches Verkehrsmittel wohl am geeignetsten wäre, um Russland durch die Augen eines Einheimischen zu sehen – Auto oder Fahrrad. Ich entschied mich für Letzteres, weil Ersatzteile billiger sind und ich beabsichtigte, mit leichtem Gepäck zu reisen.

Viele mögen sich fragen, warum Russland? Seit ich in meiner Jugend Dostojewski gelesen habe, hatte ich den Wunsch, seine Heimat zu besuchen, das Phänomen der russischen Seele zu erkunden und die weiten, offenen Landschaften zu betrachten. Vielleicht war ich schon damals auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mich abseits der lärmenden Städte niederlassen konnte.

Damit sich Freunde keine Sorgen machen, habe ich einen Blog erstellt und meine Gedanken geteilt und Fotos der Menschen, die mir begegnet sind. Ich wurde sogar zu einer Art lokalen Berühmtheit: Mehrere Medien haben über meine Reise berichtet und nannten mich den „Romantiker aus Deutschland“. Ein lokaler Fernsehsender aus Kemerowo hat sogar ein Interview mit mir gemacht. Es ist lustig, wenn man so weit gereist ist und die Leute sagen: „Ah, wir haben Dich im Fernsehen gesehen.“

Auf dem Weg traf ich so viele Leute, die mir behilflich sein wollten bei der Reparatur meines Fahrrades oder mir eine Übernachtungsmöglichkeit angeboten haben. Einmal fand ich in einem Geschäft im Ort kein Ersatzteil und der Verkäufer begleitete mich zu vier Reparaturzentren, um das passende zu finden.

Von der ukrainischen Grenze brauchte ich weniger als 50 Tage, um nach Wladiwostok und dann nach Japan zu gelangen. Später entschied ich mich jedoch, in das sibirische Dorf Petropawlowka in der Region Krasnojarsk zurückzukehren. Ich hatte viele europäische Länder besucht, aber mir wurde klar, dass ich den Winter und das kalte Wetter wirklich liebe. Ich bin Tischler von Beruf und das kam mir zugute. Ich trat der von Wissarion geführten örtlichen Glaubensgemeinschaft bei und half beim Bau von Häusern. Ich betrachte mich nicht als religiös, aber ich mag die gegenseitige Unterstützung.   

Stressfreie Taiga

Ich bin in Österreich geboren. Die Russen sind uns ähnlich. Wir sind entspannt und lakonisch und vermeiden Aufregung, wo wir nur können. Wenn ich in Petropawlowka vor mein Haus gehe, sehe ich unberührten Schnee und spüre die frische, frostige Luft. Wie in Österreich!

Wissen Sie, warum ich diesen Ort gewählt habe? Es ist eine Oase der Ruhe: Im Umkreis von 50 Kilometern gibt es nichts als die Wälder der Taiga. Wenn ich aus dem Fenster schaue, gibt es nirgendwo Schornsteine oder Gebäude, die mich ablenken. Es gibt Migranten, die sagen, dass sie ihr Land nicht lieben und niemals zurückkehren werden. Ich vermisse hier nichts Österreichisches oder Deutsches. Aber ich bin überzeugt, dass ein Mensch an jedem Ort ein glückliches Leben führen kann.

Im Alter von sechs Jahren habe ich eine Zigeunerin gesehen. Das war vielleicht das einschneidende Erlebnis, das dazu geführt hat, dass ich die Welt bereisen wollte. Als ewiger Wanderer wissen Sie plötzlich Dinge zu schätzen, die Sie vorher nicht einmal bemerkt haben. Aber eines Tages kommt ein Ort, der Sie berührt und Sie haben das Gefühl, dass Sie etwas länger bleiben müssen.

Deutschland ist bekannt für seine strukturierte und sogar reglementierte Lebensweise. Es heißt, dass es Stress reduziert. Aber ein strenger Zeitplan stresst mich. Immer bist Du in Eile, um alles erledigt zu bekommen. In meinem Dorf kann ich arbeiten, wann immer ich will. Ich muss nicht um 9 Uhr morgens im Büro sein und mich durch in der U-Bahn durch die Massen drängen oder im Stau stehen. Stattdessen kann ich den Ofen anzünden und ein Buch lesen, das zu meiner Stimmung passt. 

In Deutschland undenkbar

Die Russen, die ich kenne, bauen Häuser ganz anders als in Deutschland. Manchmal scheint es, als sei der Prozess wichtiger als das Ergebnis. Die Russen beginnen nicht mit einem klaren Plan und haben selten alles unter Kontrolle. Der Bau entwickelt ein Eigenleben. Über die zweite Stufe wird erst nachgedacht, wenn die Erste abgeschlossen ist.  Als beispielsweise in einem der benachbarten Dörfer eine Schule gebaut wurde, hörten die Arbeiter auch im Winter nicht auf. Das Dach bauten sie in eisiger Kälte. In Deutschland wäre das undenkbar! Und was, denken Sie, ist danach passiert? Das Dach war undicht.

Doch nach drei Jahren in Russland bin ich entspannter, wenn es Schwierigkeiten gibt. Ich gehe gelassener mit Terminen und der Arbeit um. Genieße, was Du tust, das ist mehr der russische Stil.

Russland hat ein anderes Konzept von Zeit und Raum - wahrscheinlich aufgrund seiner Größe. In Russland gibt es keine Dienstleistungsmentalität. Einmal habe ich Baumaterial in einem Laden bestellt, das nicht auf Lager war. Ich besprach mit der Verkäuferin, dass ich es in zwei Wochen abholen würde. Und was passierte? Ich kam und sie hatte es völlig vergessen, als hätte es nie eine Bestellung gegeben.

Gleichzeitig traf ich aber immer wieder auf sehr hilfsbereite Fremde. Auf meiner ersten Reise lernte ich Iwan kennen. Er half mir, mich in Petropawlowka niederzulassen. Er unterrichtet Englisch an einer örtlichen Schule und tischlert ebenfalls gerne. Er spricht auch Deutsch, ein echtes Sprachgenie.  

Wie man mit Russen redet

Ich bin jetzt seit drei Jahren in Russland und habe endlich einen systematischen Ansatz zum Erlernen der Sprache gefunden. Ich lebe in einer internationalen Gemeinschaft, arbeite aber oft bei Bauprojekten mit Russen und habe erkannt, dass ich die Sprache besser sprechen muss, um verstanden zu werden. Ich habe hier gelernt, Fehler nicht mehr so ernst zu nehmen. Russen muss man anders behandeln. Das haben mir mein Russischlehrer und russische Freunde eingetrichtert. Ich bin sehr emotional, wenn es um meine Arbeit geht und wenn ein Kollege Mist gebaut hat, wenn ich nicht da war, bin ich wirklich sauer geworden. Das geht nicht mit Russen. Es macht alles nur noch schlimmer und Deine Helfer sind beleidigt. Es ist besser zu sagen: „Es ist meine Schuld, ich hätte es besser erklären sollen. Wir machen alle Fehler.“ Und dann zeigt man, wie es richtig geht.

Schäfer erzählte seine Geschichte Daria Aminowa

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