Nach einer anderthalbstündigen Zugfahrt von St. Petersburg erreichte ich den Hauptbahnhof von Wyborg, einer kleinen mittelalterlichen Stadt mit etwa 74.000 Einwohnern. Der Bahnhof im stalinistisch-imperialen Stil unterscheidet sich kaum von denen in anderen Teilen Russlands und steht in starkem Kontrast zu der reichen architektonischen Vielfalt, die uns ein paar Schritte weiter erwartet.
Als die Nacht die Umgebung bereits einhüllt, ich auf der Suche nach unserer Herberge umherwandere und die Einheimischen nach dem Weg frage - vor allem die Kellnerin eines in einer alten Straßenbahnstation eingerichteten Cafés - kann ich im Halbdunkeln einige sehr vielseitige Gebäude erkennen.
Diese Meinung wird von einer Frau bestätigt, die uns großzügig anbietet, uns zu unserem Ziel zu begleiten. Sie erzählt mir, dass die Stadt heute Schauplatz zahlreicher Renovierungsprojekte ist, wie ich später sehen werde.
Nach meiner ersten Nacht in der Herberge, die zufällig von Arbeitern belegt ist, die auf verschiedenen Baustellen arbeiten, mache ich mich auf den Weg, um die Stadt genauer zu erkunden, und steuere die Hauptsehenswürdigkeit an: das Schloss.
Es wurde 1293 von den Schweden auf einer kleinen Insel im Finnischen Meerbusen während ihres dritten Kreuzzugs gegen die heidnischen Karelier erbaut, der zu einer über hundertjährigen schwedischen Herrschaft in der Region führte. Der Turm der Festung war lange Zeit der höchste in Skandinavien.
Der Einfluss der nordischen Länder auf Wyborg ist sowohl in der Architektur als auch in der Kultur unverkennbar und offensichtlich. Mehr als 400 Jahre lang stand die Stadt unter schwedischer Kontrolle, bevor sie 1710 wieder unter russische Herrschaft geriet und 1917 in die finnischen Gebiete integriert wurde. Erst nach dem Ende des sowjetisch-finnischen Krieges (1939-1940) wurde die Stadt endgültig Teil der UdSSR.
Wyborg war lange Zeit eine kosmopolitische Stadt mit schwedischen, finnischen, russischen und deutschen Gemeinden. Auch heute noch ist es nicht ungewöhnlich, dass man bei einem Spaziergang durch die Straßen Finnisch hört, hier und da Inschriften in finnischer Sprache sieht und sogar Wikingerschiffe entlang des Hafens bewundern kann.
Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der religiösen Architektur wider: Orthodoxe Kathedralen stehen friedlich neben protestantischen Kirchen.
Dank dieses beeindruckenden Erbes kann sich Wyborg einer unglaublichen Kombination verschiedenster Stile rühmen, die der Reisende auf den Straßen und Plätzen der Stadt, von denen viele gepflastert sind, entdecken kann.
Die Stadt lädt mit ihren zahlreichen Parks und Grünanlagen zum Flanieren ein. Es gibt sogar eine Zweigstelle des Eremitage-Museums, die von Gassen mit Blick auf den Hafen umgeben ist und von eleganten, antikisierenden Statuen bewacht wird.
Eine weitere Skulptur, auf die die Einheimischen stolz sind, ist die von Torgils Knutsson (Regent von Schweden 1290 bis 1303): sie steht auf einem malerischen Platz nur wenige Schritte vom Schloss entfernt. Zu ihren Füßen treffe ich einen Achtzigjährigen, der mir verrät, dass er seit seiner Kindheit hier lebt und mir eine Führung auf Finnisch anbietet, einer Sprache, die er angeblich besser beherrscht als Russisch.
Einer der wichtigsten Orte des Lebens in Wyborg ist auch der Marktplatz, auf dem der Runde Turm majestätisch steht. Er wurde in den späten 1550er Jahren im Auftrag des schwedischen Königs Gustav I. Vasa erbaut und war einst für militärische Zwecke gedacht. Nachdem er seine Verteidigungsfunktion aufgegeben hat, beherbergt er heute ein Restaurant.
Die Markthallen am Rande des Platzes sind ein Muss und bieten einen authentischen Einblick in die Realität der russischen Märkte. An den Ständen stapeln sich alle möglichen Lebensmittel, die die Verkäufer Sie, ohne zu zögern, probieren lassen, um Ihre Geschmacksnerven zu verführen.
Der Marktplatz ist ein echter städtischer Knotenpunkt, an dem zahlreiche mittelalterliche Gassen zusammenlaufen, die viele Überraschungen bereithalten.
Obwohl ich gewarnt wurde, war ich dennoch erstaunt über die zahlreichen Gebäude, die sich im Bau befinden oder leider ihrem Schicksal überlassen wurden. Einige von ihnen wurden im Krieg beschädigt, andere wurden niedergebrannt, wieder andere wurden einfach vernachlässigt.
Zwar werden Anstrengungen unternommen, um das reiche Erbe von Wyborg zu bewahren, wie z. B. das kleine Haus der Kaufmannsgilde, das als ältestes Wohnhaus der Stadt (14. Jahrhundert) gilt und zu neuem Leben erweckt wurde. Doch viele weitere warten darauf, dass sie an die Reihe kommen, bevor es zu spät ist.
Unbestreitbar an der Schnittstelle zwischen der slawischen und der nordischen Welt gelegen, ist Wyborg einer jener Orte mit vielfältigen Identitäten, die Grenzen zu ignorieren scheinen und schwer zu definieren sind. Ein Abstecher in diese historische Stadt wird Reisende begeistern, die sich nicht entscheiden können, welches Land sie entdecken oder in welche Epoche sie eintauchen wollen. Wyborg präsentiert sich außerhalb von Zeit und Raum.
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