Am äußersten Rande Russlands, wo in der endlosen Tundra der neue Tag beginnt, leben die Tschuktschen. Sie nennen sich selbst Lygorawetlan, was in ihrer Sprache „echte Menschen“ bedeutet. Das Leben in Tschukotka ist nicht einfach, aber es ist natürlich. Die „Tundra-Tschuktschen“ sind nomadische Rentierzüchter, die „Küsten-Tschuktschen“ dagegen sind Seejäger. Insgesamt gibt es etwa 16.000 von ihnen, die meisten leben auf der Tschukotka-Halbinsel. Viele von ihnen gehen, wie vor Hunderten von Jahren, der traditionellen Beschäftigung ihres Volkes nach.
Ihr Beruf und ihr Alltag mögen archaisch erscheinen, aber ihr Leben ist keineswegs von der Außenwelt isoliert. Sie nutzen Smartphones, Laptops und Bankkarten.
Der Hubschrauber kreist lange Zeit über der Tundra auf der Suche nach der Tschuktschensiedlung. Es ist nicht leicht, sie zu finden. Die heutigen Nomaden sind in Brigaden eingeteilt, von denen jede auf ihrem Weg von Ort zu Ort den Leitern der Rentierzuchtbetriebe ihre Route meldet.
Aber es gibt ein Problem, sagen die Piloten: Die Hirten haben ihre eigenen Namen für Hügel und Flüsse, die nicht mit den Bezeichnungen auf der Karte übereinstimmen. Es ist möglich, stundenlang über die Tundra zu fliegen und weder Menschen noch Tiere zu sehen.
Schließlich taucht ein Tal mit mehreren Jarangas, traditionellen Tschuktschen-Behausungen, auf. Kinder laufen ihnen freudig entgegen. Dies ist das Lager der Brigade Nummer drei. Die Hubschrauber landen hier nur selten, denn es sind nur 70 km bis zur Siedlung Egwekinot – in dieser Region ein Katzensprung. Und Gäste sind immer willkommen.
In der Brigade gibt es drei Familien. Jetzt sind die Männer in die Tundra gezogen, um die Rentiere zu weiden, und nur die Frauen, Kinder und älteren Männer bleiben im Lager.
Valeria ist Russin und lebte früher in Egwekinot, aber sie lernte ihren zukünftigen Mann aus einer Rentierzüchterfamilie kennen und beschloss, in die Tundra zu ziehen. Die 29-Jährige zieht zwei Kinder groß, Walja (etwa 5 Jahre alt) und Kyrill (etwa ein Jahr alt). Solche Familien sind hier keine Seltenheit. „Die Zeiten, in denen Frauen in einem Jaranga entbunden haben, sind längst vorbei“, sagt sie. „Mein Mann sagt, dass früher alles mit dem Hubschrauber hergebracht wurde. Jetzt haben wir unseren eigenen Geländewagen und fahren ins Dorf, um Lebensmittel und Benzin zu kaufen. Wenn die Kinder alt genug sind, werden wir sie selbst zur Schule bringen.“
Sie haben eine große Jaranga, in deren Mitte sich eine Feuerstelle mit einem dampfenden Kessel befindet. Der Fisch wird am Feuer geräuchert. Auf dem Boden liegen weiche Rentierfelle, und das Schlafzimmer ist durch einen dicken Vorhang abgetrennt. Stromleisten und Steckdosen wurden auf dem Boden verteilt – schließlich müssen wir Handys und andere Geräte aufladen. Im Tal gibt es keine Kommunikation – man muss den Berg hinaufgehen, um zu telefonieren. Kinder haben ihre eigenen Autos und Puppen, aber sie sind mehr daran interessiert, einfach herumzutollen.
In Tschukotka gibt es 14 kommunale Betriebe, etwa 600 Hirschzüchter mit 150.000 Rentieren. Die Tschuktschen haben sowohl private als auch kommunale Rentiere, die aber alle zusammen weiden. Die Gehälter der Rentierzüchter sind mit ca. 50.000 Rubel (835 Euro) für lokale Verhältnisse zwar gering, aber sie erhalten bestimmte Vergünstigungen. Sie können zum Beispiel vorzeitig in Rente gehen – Frauen mit 45, Männer mit 50 Jahren.
Wjatscheslaw Wiktorow/Roskongress
„Ich bin bereits im Ruhestand und helfe meinen Kindern und Enkeln“, berichtet Wassilij, ein 50-jähriger, stämmiger und ernster Mann in einem grauen Hemd. „Ich bin schon seit meiner Kindheit hier, und auf meiner Lohnsteuerkarte steht ,Rentierzüchterʻ. Wir liefern Fleisch, Häute und Geweihe an den Betrieb. Wir bekommen unser Gehalt auf unsere Geldkarte – und wenn wir etwas kaufen müssen, geben wir sie einfach demjenigen, der ins Dorf geht.“
Wassilijs ältester Sohn arbeitet mit ihm in der Tundra, sein jüngster Sohn hat kein Interesse an diesem Leben, aber sein Vater ist nicht beleidigt wegen dieser Entscheidung, er sagt „es ist seine Sache“.
Aber seine Schwester Tamara, brach die Schule nach der 5. Klasse ab, um zurück ins Nomadenlager zu ihrer Familie zu gehen. „Das war meine eigene Entscheidung“, sagt sie. „Ich wollte meinen Eltern und meiner Tante helfen.“ Sie ist bereits Großmutter, und ihre Enkelkinder leben hier.
Tamara sagt, dass es in der Tundra jetzt an nichts mangelt: „Es gibt einen Generator, es gibt ein Funkgerät, wir können unsere Männer und andere Brigaden kontaktieren.“ Die Frauen sind auch offiziell als Rentierzüchterinnen registriert, obwohl sie hauptsächlich in der Hauswirtschaft tätig sind.
Es gibt viel zu tun: Für alle kochen, die Behausung putzen, die Ausrüstung überprüfen, die Vorräte für den Winter vorbereiten und die Wäsche waschen.
Die Ureinwohner Tschukotkas sind eines der wenigen Völker der Welt, die Walfang betreiben dürfen (die anderen sind die Ureinwohner Alaskas, Grönlands und des karibischen Inselstaats St. Vincent und die Grenadinen). Den Gemeinden werden bestimmte Quoten zugeteilt. Die meisten Wale – über 40 pro Jahr – werden unweit des Dorfes Lorino (1.500 Einwohner) erlegt, das etwa 500 Kilometer östlich von Anadyr und 150 Kilometer westlich von Alaska liegt.
Neben Walen werden auch Flossentiere – Walrosse und Robben verschiedener Arten – gefangen. Die modernen Tschuktschen gehen mit speziellen Motorbooten auf die Jagd, verwenden jedoch traditionelle Harpunen.
Die Seejäger sind in Brigaden organisiert und erhalten das gleiche Gehalt und die gleichen Leistungen wie die Rentierzüchter. Ihr Job ist jedoch gefährlich: Die Beringsee ist nicht nur ziemlich rau, sondern manchmal kippen wilde Tiere die Boote um und die anderen Jäger kommen zu Hilfe, wenn jemand über Bord geht.
Die Gesundheit der Jäger leidet unter diesen harten Bedingungen, aber selbst noch im hohen Alter bewahren sie sich ihre Liebe zum Meer. Dmitrij ging von seinem 15. Lebensjahr bis zu seiner Pensionierung auf die Seejagd. Jetzt ist er 68. Die harte Arbeit hat sein Gesicht verwittert, seine Finger sind steif, seine Hände lassen sich kaum noch bewegen. Er ist fast blind, aber er kommt ans Meer und sitzt am kalten Ufer, um die vorbeifahrenden Boote zu beobachten.
„Ich bin hier geboren, ich bin ein Lori“, sagt er mit leiser Stimme. „Wir sind bei jedem Wetter zur See gefahren. Damals war es sehr hart, und jetzt tun mir die Füße ständig weh.“
Die Einheimischen bemühen sich, die nationalen Traditionen aufrechtzuerhalten, erzählen ihren Kindern von der Kultur der Tschuktschen, stellen ihre eigenen Souvenirs her und freuen sich über Touristen, die nur im Sommer kommen, wenn es nicht so kalt ist. In Lorino werden Amulette verkauft – Sonnensymbole und Schnitzereien aus Walrossknochen, die von lokalen Handwerkern hergestellt werden.
„Wir lieben unser Volk und wollen, dass die Völker der Welt sehen, was wir haben", sagt Olga, die ihr ganzes Leben lang in verschiedenen lokalen Handwerksberufen tätig war, von der Schneiderei bis zur Knochenschnitzerei. „Bislang ist dieses Geschäft eher enthusiastisch und unrentabel.“
Zugleich sind die Tschuktschen offen für neue kulturelle Traditionen vom „Festland“. Mariam wurde in Lorino geboren, lebte aber lange Zeit in Chabarowsk, der größten Stadt im Fernen Osten (über 600.000 Einwohner). Sie kehrte vor kurzem zurück, um ihrer Mutter im Ruhestand zu helfen. „Als ich hierher kam, fiel es mir schwer, mich sowohl an die Preise (sie sind viel höher als in der Stadt) als auch an die Umgebung zu gewöhnen. Aber Menschen leben überall“, sagt sie. Mariam musste sich wieder daran erinnern, wie es war, Seite an Seite mit Bären zu leben, als es im Umkreis von vielen Kilometern nur die Tundra und das kalte Beringmeer gab.
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