Anadyr: Wie leben die Menschen in der abgelegensten und teuersten Stadt Russlands?

Jurij Smitjuk /TASS
Es ist kalt hier, sehr weit weg von allem und die Preise für Essen und Unterkunft sind exorbitant hoch. Warum ziehen die Menschen in die Hauptstadt von Tschukotka?

Preisschilder als Kunst

Es dauert mehr als acht Stunden, um von Moskau nach Anadyr, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tschukotka, zu fliegen. Es ist die östlichste Stadt Russlands und Eurasiens, mit nur wenigen Dörfern und der endlosen Tundra dahinter. Die Stadt ist weit von anderen Bevölkerungszentren entfernt, und alle Waren, die hierhergebracht werden, verteuern sich sofort um ein Vielfaches. Kein Wunder, dass Anadyr mit seinen rund 15.000 Einwohnern die Liste der teuersten Städte des Landes anführt.

Die Preise in den Geschäften sind für die Reisenden ein echter Schock. Eine Packung Milch kostet 3-4-mal mehr als im Durchschnitt in Russland, frisches Obst und Gemüse 4-5 mal mehr. Und das gilt nur für die Preise im Sommer; im Winter werden sie noch teurer.

Massiver Rotbarschfang an der Beringseeküste in Anadyr.

Die unvorstellbar hohen Preise für die einfachsten Produkte hängen damit zusammen, dass sie, wie andere Dinge des täglichen Lebens, nur auf dem Seeweg und bei gutem Wetter (was hier nicht sehr häufig vorkommt) nach Anadyr gebracht werden können. Aufgrund der schwierigen geografischen Lage und des Wetters gibt es weder eine Eisenbahn noch normale Straßen (außerhalb der Stadt existieren nur die so genannten Winterstraßen, die mit einer Art Geländewagen befahren werden können). Mit dem Flugzeug ist das natürlich auch möglich, aber das ist dann noch teurer.

Lebensmittelproduktion im Lebensmittelverarbeitungsbetrieb Polyarny in Anadyr.

Die Lebensmittelversorgung Anadyrs erfolgt von etwa Mitte Juni bis Anfang November und ist wetterabhängig. Die Waren werden in Wladiwostok auf eine riesige Fähre verladen, die dann in einem Monat eine Strecke von etwa 3.700 km zurücklegt. Zunächst nach Anadyr, dann in andere Siedlungen auf Tschukotka. Im Sommer kann die Fähre mehrere Fahrten durchführen.

In Tschukotka gibt es auch einheimische Produkte und deren Preise sind viel niedriger als die der importierten Produkte und vergleichbar mit dem nationalen Durchschnitt. In Anadyr bäckt man sein eigenes Brot (aus importiertem Mehl), es gibt Elchfleich, Rotlachs und Kräuter, die in Sommergewächshäusern angebaut werden. Örtliche Unternehmer versuchen, den Gewächshausanbau zu entwickeln, damit das ganze Jahr über Gurken und Tomaten zu erschwinglichen Preisen angebaut werden können, aber bisher stehen sie noch am Anfang.

Es sind nicht nur die Lebensmittel, die teuer sind. Auch Wohnungen aller Art sind kostspielig. Die einfachste Hotelunterkunft kostet so viel wie ein Zimmer in einem Vier-Sterne-Hotel in Moskau (pro Nacht 10.000 Rubel, das sind ca. 170 Euro). Die Kosten für eine Einzimmerwohnung in einer „Chruschtschowka“ in Anadyr sind ebenfalls vergleichbar mit Moskau (7 Millionen Rubel bzw. 115.000 Euro).

Trotz all der beschriebenen Schwierigkeiten kommen viele junge Fachkräfte nach Anadyr und generell nach Tschukotka. Die Stadt ist auch für Kinder ausgestattet, aber ältere Menschen trifft man hier fast nie. 

Romantik des Nordens

Anadyr 1986.

Anadyr wurde 1889 gegründet (bis 1934 hieß die Stadt Nowo-Mariinskij). In der Sowjzeit wurde massiv in die Infrastruktur von Anadyr investiert, da die Stadt in der Nähe der Seegrenze zu den USA in ständiger Alarmbereitschaft war. Außerdem wurden hier bereits in den späten 1950er Jahren Gold- und Silbervorkommen entdeckt. Das Leben im Norden war schon immer teuer, aber zu Zeiten der Sowjetunion wurde dies durch hohe Gehälter und Vergünstigungen wie die Frühverrentung wettgemacht.

Anadyr war nie eine Großstadt. Mit 17.000 Einwohnern wurde 1989 das Bevölkerungsmaximum erreicht, aber aufgrund der Krise nach dem Zusammenbruch der UdSSR verließ in den folgenden zehn Jahren jeder dritte Einwohner die Stadt. In ganz Tschukotka schrumpfte die Bevölkerung sogar um zwei Drittel. Viele Menschen verkauften ihre Wohnungen für den Preis eines Flugtickets nach Moskau – so schlimm war die Lage.

Aber Anfang der 2000er Jahre begannen die Menschen zurückzukommen. Den Bewohnern zufolge ist dies vor allem dem damaligen Gouverneur von Tschukotka, dem heute bekannten Geschäftsmann Roman Abramowitsch, zu verdanken (er war von 2001 bis 2008 im Amt). Laut russischen Medien war er offiziell in Anadyr gemeldet und zahlte dort seine Einkommenssteuer, die sich auf umgerechnet mehrere Millionen Euro belief.

Er zahlte die ausstehenden Löhne, baute neue Unternehmen auf und sorgte für Ordnung in den zahlreichen Siedlungen der Region. Tschukotka wurde zu einer einzigen großen Baustelle. Die Erinnerung an den ehemaligen Gouverneur ist sehr herzlich, denn mit seiner Hilfe ist die einst trostlose Region wieder zu einem gewissen Wohlstand gekommen. Zumindest wurde das Aussterben beendet. Das Wichtigste ist, dass Anadyr heute wieder zu jener Stadt geworden ist, in der ein Fachmann seinen „langen nördlichen Rubel“ verdienen kann. 

Leben in Tschukotka

Die Menschen in Tschukotka selbst sind hauptsächlich im Bergbau und in der Goldgewinnung beschäftigt – etwa 10 % des gesamten Goldes in Russland wird dort gefördert. Andererseits gibt es in Anadyr keine Industrie, die Menschen sind als Lehrer, Ärzte und Büroangestellte beschäftigt. Außerdem gibt es Fachkräfte, die im See- und auf dem Flughafen arbeiten. 

Auf dem Flughafen von Anadyr.

Viele der Stellen werden auf Rotationsbasis angeboten. Meist übernimmt der Arbeitgeber neben dem Lohn auch die Unterkunfts- und Reisekosten: Alle zwei Jahre werden den Arbeitnehmern die Kosten für die Reise zu ihrem Urlaubsort und zurück in voller Höhe erstattet – egal wohin im Land die Fahrt geht. Hat man eine bestimmte Zeit in Tschukotka gearbeitet, wird das Renteneintrittsalter gesenkt. Die Rente selbst ist hier eineinhalb Mal höher als in anderen Regionen Russlands. In der Regel kommen die Menschen hierher, um ein paar Jahre lang Geld zu verdienen, für eine Wohnung oder ein Haus in ihrer Heimat zu sparen und dann dorthin zurückzukehren.

Das Klima hier in der Subarktis ist ziemlich rau (die meiste Zeit des Jahres ist in Anadyr Winter, der Sommer ist kurz und kalt), der Winde ist schrecklich und es gibt nicht viel Sonne. Aber die Leute, die hierherkommen, werden von der Romantik angezogen.

„Ich habe 25 Jahre meines Lebens ohne Schnee gelebt, das erste Mal habe ich die Kälte in Tschukotka gespürt“, sagt Murfet, der aus Serbien stammt und in der Schifffahrtsbranche arbeitet. „Früher war es eine geschlossene Stadt. Ich hatte keine Vorstellung, wohin ich eigentlich gehe. Anfangs war ich geschockt. Die Straßen sahen aus wie aus dem vorletzten Jahrhundert. Ich bin dann noch ein paar Mal zurückgekommen und es war wie im Urlaub – ich bemerkte, dass ich mich hier entspanne und die Probleme der Stadt hinter mir lasse.“

Er kam 2007 auf eine Geschäftsreise hierher und beschloss dann zu bleiben. „Das Wichtigste ist hier die Zeit. Wir leben hier. Wir haben Zeit zum Lesen, für uns selbst, für die Familie. Wir kommunizieren viel miteinander, wir haben viele Freunde, keine Followers, sondern echte Freunde.“

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Weiterlesen

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!