Das Singer-Haus: vom Büro einer Firma und einem Konsulat bis zur berühmten Buchhandlung

Reise
JULIA CHAKIMOWA
Das Gebäude im Zentrum von St. Petersburg wurde von der amerikanischen Nähmaschinenfirma Singer in Auftrag gegeben, die über eine eigene Produktion und ein Netz von Geschäften in Russland verfügte. Sie benötigte einen repräsentativen Hauptsitz.

Die Singer-Nähmaschinen kamen in den 1860er Jahren nach Russland und zwar aus Deutschland. Später wurde im modernen Wolgograd eine Werkstatt für ihre Montage gegründet und 1897 entstand die Aktiengesellschaft The Singer Company, die bald darauf eine vollwertige Fabrik in Podolsk bei Moskau errichtete. Zur gleichen Zeit waren die amerikanischen Eigentümer des Unternehmens bestrebt, eine Niederlassung in St. Petersburg zu eröffnen: Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kaufte das Unternehmen ein Grundstück direkt am Newski-Prospekt.

Zu den ehrgeizigen Plänen gehörte der Bau einer Art amerikanisches Hochhaus in der russischen Hauptstadt – ein achtstöckiges Gebäude (anderen Quellen zufolge ein elfstöckiges Gebäude) mit hochmoderner Ausstattung. Die Träume mussten jedoch korrigiert werden: Es stellte sich heraus, dass es im Zentrum von St. Petersburg aufgrund der historischen Bebauung verboten war, Gebäude zu errichten, die höher als 23,5 m waren. 

Der Architekt des Hauses war Pawel Susor, der etwa einhundert Mietshäuser in der Stadt gebaut hat. Er fand es schwierig, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Der Kunde verlangte, dass die Fassade dem Aussehen eines New Yorker Büros entspräche, und Susor bestand auf dem eklektischen lokalen Stil, einer Mischung aus Jugendstil und Klassizismus. Außerdem wollte der Architekt seinen kreativen Ansatz auch nicht aufgeben.

Im Ergebnis kam es zu einem Kompromiss: 1904 an der bedeutendsten Straße der Stadt ein sechsstöckiges Haus mit einem Atrium, einer Mansarde und einer Eckglaskuppel. Beim Bau wurden die fortschrittlichsten Technologien der damaligen Zeit angewandt: Das Gebäude verfügte über ein Eisengerüst; die Abflussrohre der Dachrinnen waren in den Wänden verborgen; die Luft in den Räumen wurde gereinigt, geheizt und befeuchtet und das Dach wurde mithilfe einer automatischen Dampfzufuhr vom Schnee befreit. 

Die Fassaden waren mit Granit in verschiedenen Farbtönen verkleidet und mit schmiedeeisernen Bronzefiguren geschmückt. Im Inneren wurden drei Aufzüge installiert. Auch ein Adler (von Bildhauer Artemij Ober) ist auf dem Gebäude zu sehen, mit einem Schild mit Sternen und Streifen auf der Brust, der auf die US-Flagge verweist. 

Das Objekt wurde von den Bürgern unterschiedlich bewertet. Sie schätzten das fortschrittliche Aussehen nicht und nannten es sowohl Parfümflakon als auch einen faulen Zahn im Kiefer des Newski-Prospekts. Ärgerlich war auch der Verstoß gegen die Höhenvorschriften: Der gläserne Eckturm mit der Weltkugel wurde zur neuen Dominante des Newski-Prospekts. 

Neben den Büros von Singer beherbergte das Gebäude Banken, die New York Insurance Company und Handelsgesellschaften. Das Haus wurde zu einem der ersten Geschäftszentren des Landes. 

Während des Ersten Weltkriegs wurde das amerikanische Unternehmen – wegen des deutschen Namens seines Gründers – mit Deutschland in Verbindung gebracht und seine Vertreter sogar der Spionage verdächtigt, obwohl Singer neben seiner Handelstätigkeit auch Uniformen für die russische Armee schneiderte. Um unerwünschte Assoziationen zu vermeiden, vermietete die Unternehmensleitung 1917-1918 das Erdgeschoss des Gebäudes an das amerikanische Konsulat.

Am 20. März 1917 telegrafierte der amerikanische Konsul North Winship den US-Außenminister über die revolutionären Ereignisse in Petrograd und stellte fest, dass Singers Haus sich mitten in einem Feuergefecht befand.

„Während dieser zwei Tage wurde rund um das Konsulat heftig gekämpft und mehrmals schien es, als könne nichts das Singer-Gebäude vor der völligen Zerstörung retten. Vermutlich wurden Maschinengewehre von vorteilhaften Punkten in diesem Gebäude durch Polizeibeamte sowie von benachbarten Gebäuden aus bedient und die Revolutionäre antworteten mit Salven aus ihren Gewehren und Maschinengewehren.“

Winship beschwerte sich, dass der deutsche Firmenname trotz amerikanischer Symbole am Gebäude und eines Adlers an der Fassade eine negative Wirkung auf die öffentliche Meinung habe.

„Ich musste den amerikanischen Adler auf dem Dach des Gebäudes verteidigen, da man ihn für einen deutschen Adler hielt und die Menge ihn abreißen wollte, bis ich auf Russisch den Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Adler erklärte.“

Daher war der Vogel auf Singers Haus in eine Sternenfahne gehüllt, aus der nur der Schnabel herausragte. In den 1920er Jahren wurde er demontiert.

Wegen des Angriffs der Deutschen auf Petrograd im Jahr 1918 wurden die ausländischen diplomatischen Vertretungen aus der Stadt evakuiert. Bis 1922 und nach der Verstaatlichung des Gebäudes befand sich hier die Repräsentanz der Firma. Sie musste sich das Gebäude einfach mit sowjetischen Institutionen teilen, von Buchverlagen bis hin zum sowjetischen Zensurausschuss. 

Im Jahr 1919 wurde in den ersten beiden Stockwerken das Haus des Buches eröffnet, der Pionier des staatlichen Buchhandels in der Stadt. Es hat auch heute noch geöffnet, nachdem es während der Belagerung von Leningrad nur drei Monate lang geschlossen war und mehrere Jahre lang restauriert wurde.