„Du bist, was du isst“ – dieser Satz von Hippokrates wurde zu einem Aphorismus und bezog sich auf die Gesundheit, aber für das Russische Reich des 18. und 19. Jahrhunderts bedeutete er etwas ganz anderes. Was man (zumindest öffentlich) aß, bestimmte den sozialen Status. Doch während sich die Bauern die „Haute Cuisine“ und ausländische Speisen einfach nicht leisten konnten, musste die Oberschicht eine Reihe von Lebensmitteln, Speisen und Getränken bewusst aus ihrem Leben ausschließen, weil sie „unanständig“ waren.
Paradoxerweise stammten solche „unanständigen“ Speisen in der russischen Aristokratie 150 Jahre lang meist... aus der russischen Küche. Und diejenigen, die nicht darauf verzichten wollten, galten als Spinner, Geizhälse oder vulgäre Menschen (je nach Kontext). Der berühmte Militärführer Graf Alexander Suworow zum Beispiel, der sogar bei Abendgesellschaften einen persönlichen Koch dabei hatte, der ihm in einem Topf Gerichte der russischen Küche servierte, hatte in Hofkreisen den Ruf eines Freaks.
Verachtenswerte Nüsse, „gemeine“ Kohlsuppe
Die Verachtung für die russische Küche entstand während der Epoche des Zaren Peters I., zusammen mit dem Trend zu allem, was europäisch ist – von der Kleidung bis zu Kachelöffen. Unter Katharina II. musste jeder wohlhabende Adlige einen französischen Koch in der Küche beschäftigen. Es gibt den bekannten Fall des Grafen Schuwalow, der aus alter Gewohnheit ein russisches Gericht (Gänsebraten) zum Abendessen bestellte und damit seinen französischen Koch vor den Kopf stieß. „Wie! Soll ich einen Gänsebraten auf Ihrem Tisch servieren! Nein, schicken Sie mich lieber so schnell wie möglich nach Frankreich zurück!“, rief dieser aus.
Nach und nach wurden die französischen Gerichte mit anderen Speisen der europäischen Küche vermischt – jedes Jahrzehnt entdeckte die russische Aristokratie ein Gericht aus einem anderen europäischen Land. Sogar Forelle oder Kabeljau wurden aus dem Ausland auf den russischen Tisch gebracht. Aber die Etikette des 18. und frühen 19. Jahrhunderts erlaubte es noch immer nicht, die so genannten „bäuerlichen“ Speisen bei den Mittag- oder Abendessen der Adligen zu servieren: Каша (káscha, dt.: Brei), Kwas, сбитень (sbíten,ein Heißgetränk aus Honig) und vor allem щи (stschi, dt.: Kohlsuppe), denn alle Speisen aus gewöhnlichem Weißkohl galten als unpassend.
Auch Roggenbrot wurde auf die schwarze Liste gesetzt. Nach und nach wurde es черный хлеб (tschórnyj chljeb, dt.: Schwarzbrot) genannt – чернь bedeutet im Russischen nämlich nicht nur Schwarz, sondern auch Pöbel oder Plebs. Für Aristokraten geziemte sich „französisches Brot“ – weißes Weizenbrot.
Auch Nüsse und Bier waren verpönt. „Sie servieren Nüsse, sie trinken Bier im Theater“, schrieb der Dichter Alexander Puschkin scherzhaft über diejenigen, die in der hohen Gesellschaft als „niedere“ Aristokraten bezeichnet wurden. Zu Puschkins Zeiten waren Nüsse und Bier ein Zeichen für einen vulgären, ungehobelten Menschen. Dies galt nur für Nüsse in ihrer ganzen, unverarbeiteten Form, wie sie im Wald gesammelt werden. Das Gleiche galt für Sonnenblumenkerne. Solche Lebensmittel galten als grob und Futter für das Vieh. Wurden die gleichen Nüsse jedoch von einem französischen Koch zerkleinert und über das Dessert gestreut, waren sie gesellschaftsfähig.
Was das Bier betrifft, so war es damals für Frauen nicht akzeptabel und für Männer galt das einheimische Bier als plebejisches Getränk. Dafür gab es einen Grund: Bier, das in der Nähe von St. Petersburg gebraut wurde, war in der Regel bitter und wurde schnell schal. Die Aristokraten bestellten englisches Bier in Fässern, aber sie tranken es in Männergesellschaft und schon gar nicht im Theater.
Interessanterweise wurden im 19. Jahrhundert alle Arten von Fleisch-, Fisch- und Geflügelgerichten, die mit einem durch Schmoren erzeugten Bratensaft serviert wurden, als Sauce bezeichnet. Auch das Servieren der Sauce an die Gäste war eine knifflige Angelegenheit. Über Matwej Solnzew, einem Moskauer Verwandten Puschkins, soll gesagt worden sein, nachdem er seinen Freunden, darunter Fürst Wolkonskij, bei einem Abendessen „eine Art Truthahnsauce“ serviert hatte: „Solnzew ist nicht nur aufgeblasen und arrogant, er ist vor allem sehr geizig.“
Die russische Küche hielt nach dem Krieg mit Frankreich 1812, als der Patriotismus in Mode kam, Einzug in die Oberschicht. Damals begann man in den Salons der gehobenen Gesellschaft, russischen Kwas (bis dahin ausschließlich ein „gemeines“ Bauerngetränk aus vergorenem Brot) anstelle von französischem Champagner zu trinken, und russische Gerichte hielten Einzug auf dem Tisch – wenn auch noch in sehr begrenzter Auswahl.
Haben sich wirklich alle an diese Regeln gehalten?
Sogar Katharina II. hatte eine Vorliebe für Essiggurken (ein weiteres minderwertiges Nahrungsmittel), wofür sie von ausländischen Diplomaten verurteilt wurde. Und nicht jeder Adlige konnte sich einen französischen Koch oder zumindest ausländische Lebensmittel für die tägliche Zubereitung der Speisen leisten.
Das Gemälde Das Frühstück eines Aristokraten von Pawel Fedotow ist bezeichnend: Sein ursprünglicher Titel lautete Ein Gast zur unrechten Zeit – es handelt von einem verängstigten Aristokraten, der keinen Besuch erwartet und deshalb eilig eine vertrocknete Scheibe Roggenbrot voller Scham bedeckt. Solche verarmten Adligen waren im 19. Jahrhundert, selbst in der Hauptstadt, ein Massenphänomen.
Darüber hinaus wurden „nichtswürdige“ Lebensmittel von allen heimlich gegessen, auch von denen, die sich die standesgemäßen Gerichte leisten konnten. Die Etikette verpflichtete dazu, sie in der Gesellschaft oder in Anwesenheit von Gästen teilweise oder vollkommen auszuschließen, je nach der Situation: Je formeller die Mahlzeit, desto mehr Raum wurde der französischen Küche eingeräumt. Einige Adlige befolgten diese Etikette nur widerwillig, wie Leo Tolstoi in Anna Karenina anschaulich beschreibt: Als Stepan Oblonsky Konstantin Lewin in ein Restaurant einlädt, bestellen sie französische Austern, Préntinière (Gemüse- und Rübensuppe), Steinbutt mit dicker Soße, Roastbeef und Kapaun (Hähnchen). Lewin hätte seinen geliebten Brei und Kohlsuppe vorgezogen, aber er musste französische Gerichte essen. Übrigens gab es auch Haferbrei auf den Speisekarten der Restaurants, der aber nach französischer Art porridge à la rousse genannt wurde, um ihn seriöser erscheinen zu lassen. Fast alle russischen Gerichte, sofern sie auf der Speisekarte standen, trugen eine französische Bezeichnung.
Essen als Protest
Im neunzehnten Jahrhundert wurde das „schändliche“ Essen vereinzelt zum Symbol der oppositionellen Stimmung. Aristokraten, deren politische Ansichten vom allgemeinen Kurs des Staates abwichen, konnten beim Abendessen in Anwesenheit von Gleichgesinnten ein „nichtswürdiges“ Gericht servieren – als Geste des Protests gegen den mondänen Snobismus.
Der Dekabrist Kondratij Ryléjew beispielsweise verwöhnte Gleichgesinnte bei geheimen Treffen in seinem Haus mit „verbotenen Speisen“: Kohl und Roggenbrot (er bezeichnete das als „russisches Frühstück“). Sie tranken jedoch eher standesgemäßen Wodka als „schändliches“ Bier.
Die frühen Slawophilen der Dreißiger- und Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts führten bei ihren Versammlungen auch eine demonstrative Darbietung auf: Sie mischten russischen Kwas mit französischem Champagner in einer großen Silberkelle und tranken die Mischung als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Volk.
Die Einteilung in „anständige“ und „unanständige“ Lebensmittel begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verschwinden. „Gurjew-Kascha“ (süßer Grießbrei mit allerlei Belag) wurde zu einem der Lieblingsgerichte Zar Alexanders III., der französische Einfluss auf die russischen Aristokraten schwand und die russische Küche setzte sich zunehmend durch.