Anatolij Bugorskij: Der Russe, der eine tödliche Strahlendosis überlebte

A.Shlyakhov

A.Shlyakhov

TASS
1978 wurde ein sowjetischer Physiker einer tödlichen Strahlendosis ausgesetzt, die ein Loch in seinen Kopf bohrte. Wie durch ein Wunder überlebte er und wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Russia Beyond erzählt, was aus ihm wurde.

„Heller als tausend Sonnen“

Am 13. Juli 1978 sah Anatolij Bugorskij eigenen Angaben zufolge einen „Lichtblitz, heller als tausend Sonnen“, als er von einem Strahl eines „76-GeV“-Teilchenbeschleunigers getroffen wurde. Dabei fühlte er keine Schmerzen, wusste jedoch, dass dieser Vorfall Langzeitkonsequenzen haben würde.

Der damals 34-jährige sowjetische Physiker war zu jener Zeit am IHEP tätig, dem Institut für Hochenergiephysik in Protwino, einer Stadt in der Region von Moskau, und arbeitete mit dem größten sowjetischen Teilchenbeschleuniger, dem U-70 Synchrotron.

Das Synchrotronprinzip kommt bei dem berühmten LHC-Teilchenbeschleuniger zum Einsatz und das Gerät beschleunigt atomare Teilchen auf eine sehr hohe Geschwindigkeit, indem es sie in Vakuumröhren aufeinanderprallen lässt. Später werden die bei der Kollision entstandenen Partikel dann wissenschaftlich untersucht. In den späten 1970er-Jahren planten die Sowjets, ihren eigenen Teilchenbeschleuniger zu bauen, dessen integraler Bestandteil der „U-70“ werden sollte.   

Während einer Wartung des Gerätes, die Bugorskij gerade durchführte, stand er vor dem Protonenstrahl, der vom Synchrotron emeritiert wurde. Er bat die Leitstelle, den Strahl „in fünf Minuten“ auszuschalten, war jedoch selbst ein oder zwei Minuten zu früh dran. Die Tür zur Versuchshalle stand nach einem zuvor durchgeführten Experiment versehentlich offen und die Warntafel, die darüber informiert, dass der Strahl noch in Betrieb ist, war aufgrund eines Glühbirnendefekts kaputt.

Institut für Hochenergiephysik in Protwino

Bugorskij betrat die Halle, um das Gerät zu untersuchen, als auf einmal ein Strahl mit einem Durchmesser von zwei bis drei Millimetern seinen Hinterkopf traf und ein winziges Loch durch sein Mittelohr sowie seine Schläfe bohrte, um dann neben seinem linken Nasenflügel wieder nach außen zu dringen. Im Bruchteil einer Sekunde war Bugorskij 200 000 bis 300 000 Röntgen ausgesetzt, einer Strahlenbelastung, die die tödliche Dosis um das Dreihundertfache übersteigt.

Der Überlebenstest

Bugorskij beendete, wenn auch durch den Lichtblitz beunruhigt, die Wartungsarbeiten und hiterließ in seinem Heft eine Notiz. Als erfahrener Physiker und Absolvent der Moskauer Nationalen Universität der Nuklearforschung wusste er, dass dieser Unfall höchst ungewöhnlich war. Da Bugorskij um mögliche negative Konsequenzen besorgt war, erstattete er zunächst darüber keinen Bericht, sondern ging nach Hause, wo sich sein Zustand verschlechterte. Bald schon schwoll die linke Gesichtshälfte an, so dass er am nächsten Morgen seinen Bericht einreichte und unmittelbar nach Moskau gebracht wurde.

Bugorskij wurde als erster Patient, der einer so hohen Strahlendosis ausgesetzt worden war, auf die Intensivstation einer Spezialklinik gebracht. Angelina Guskowa, eine der zu jener Zeit führenden russischen Radiologinnen, die 1986 schließlich die Leitung für die Patientenversorgung nach der Tschernobyl-Katastrophe übernehmen sollte, war eine der Ärztinnen, die ihn betreute. Und obwohl Bugorskijs Patientenakte unter Verschluss blieb, wurde sein Fall sorgfältig untersucht.

Zunächst ging niemand von einem Überleben des Physikers aus, doch 18 Monate später kehrte Bugorskij an seinen Arbeitsplatz zurück. Er selbst sagte, dass ihm seine „lebenslange Leidenschaft für Sport“ geholfen habe, wieder gesund zu werden.

„Ich war einer der besten Fußball- und Basketballspieler des IEHP und selbst im Winter fuhr ich Fahrrad“, sagte er später. Bugorskij berichtet zudem über zwei frühere Ereignisse, bei denen er fast gestorben wäre. In seinem ersten Lebensjahr überfielen die Nazis sein Dorf in der Orjol-Region. Er wurde „seiner Mutter weggenommen und aus dem Haus geworfen“, entging aber trotz mehreren Stunden im Schnee wie durch ein Wunder dem Erfrierungstod.

In seiner Jugendzeit erlitt er zudem schwere Krampfanfälle, nachdem er eine Stromleitung berührt hatte.

Viele Jahre später erzählte er in einem Interview, dass er ein gutes Objekt für die Forschung sei und es zu einem „unbeabsichtigten Test der Protonenkriegsführung gekommen ist. Ich bin dabei das Testobjekt. Die Überlebensfähigkeit des Menschen wird getestet.“

Die Nachwirkungen

Bugorskij verlor sein Hörvermögen auf dem linken Ohr, auch seine linke Gesichtshälfte blieb sein Leben lang gelähmt. Des Weiteren erlitt er zahlreiche kleinere und sechs große epileptische Anfälle, die jedoch mit der Zeit abnahmen.

Über ein Jahrzehnt lang musste Bugorskij nach dem Unfall zwei Mal jährlich im Krankenhaus erscheinen, um untersucht zu werden und mit anderen Strahlungsopfern zu sprechen. „Wie ehemalige Insassen wussten wir über einander Bescheid“, sagt er. „Es gibt nicht viele von uns, deshalb kennen wir die Lebensgeschichten der anderen. Für gewöhnlich sind es traurige Geschichten.“

Anatolij Bugorskij

Seine intellektuellen Fähigkeiten wurden nicht beeinträchtigt, er ermüdete jedoch schneller. Bugorskij war zudem in der Lage, seine Doktorarbeit zu dem Thema, an dem er vor dem Unfall geforscht hatte, abzuschließen und bekam mit seiner Frau einen Sohn, Peter.

Die Geheimhaltung des Vorfalls half Bugorskij nicht wirklich und zudem fehlten ihm offizielle Unterlagen, um an geeignete Medikamente zu kommen. Aus diesem Grund wurde Bugorskij später der Status eines Tschernobyl-Unfallopfers zugesprochen, da sein Unfall von offizieller Seite „unregistriert“ blieb. Nur mit Hilfe russischer und ausländischer Kollegen gelang es ihm, durchzukommen.

Die Schließung des sowjetischen LCH-Teilchenbeschleunigers war ebenso von Nachteil. Seine 1983 begonnene Konstruktion wurde im Jahr 1994 beendet, aber aufgrund einer Kürzung des Budgets seitens der Regierung ging der Teilchenbeschleuniger nie in Betrieb. Derzeit ist er weiterhin außer Betrieb und nur seine Grundinstandhaltung wird finanziert.

Die Frage, wie jemand eine Strahlenbelastung überleben kann, die die tödliche Dosis um das Hundertfache übersteigt, bleibt weiterhin unbeantwortet. Auch ist es schwer, Bugorskijs Fall mit anderen bekannten Fällen von tödlicher Strahlenbelastung, wie denen von Harold McCluskey oder Albert Stevens, zu vergleichen. Die Vermutung liegt nahe, dass Bugorskij den Unfall überlebte, weil nicht sein ganzer Körper der Strahlenbelastung ausgesetzt war und die diese nur sehr kurze Zeit andauerte. Im Unterschied zum klassischen Fall von Phineas Gage litt Bugorskij trotz der Verwundung am Kopf danach weder an Persönlichkeitsstörungen noch an Gedächtnisverlust.

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