Ich fliege zum Mond. Wir nähern uns ihm und umrunden ihn auf der Suche nach dem besten Landeplatz. Vier Besatzungsmitglieder werden die Mondoberfläche betreten und dort Experimente durchführen. Dann werden wir den Mond in seiner Umlaufbahn umrunden und den Mondrover aus der Ferne steuern, bis es endlich wieder nach Hause geht. Vier Monate wird die Mission dauern.
Sie findet übrigens Mitten in Moskau statt, nicht weit von der U-Bahn-Station Poleschaewskaja entfernt. Hinter einem unauffälligen grauen Zaun liegt das Institut für biomedizinische Probleme der Russischen Akademie der Wissenschaften (IBMP RAS), auf dem seit 1969 Weltraumisolationsexperimente, darunter MARS-500, durchgeführt werden. Nun ist das Gelände Schauplatz des SIRIUS-Projektes, an dem auch ich teilnehme.
Es ist ein Gemeinschaftsprojekt des IBMP und des Human Research Programs der Nasa, auch mit deutscher, französischer und italienischer Beteiligung. SIRIUS dient der Simulation langfristiger Weltraumaufenthalte. Ziel ist es, herauszufinden, vor welche Herausforderungen das Zusammenleben auf engstem Raum und die Isolation im All die Kosmonauten stellt.
Der Mond ist erneut ins Interesse der Weltmächte gerückt. Seine wertvollen Ressourcen sind begehrt. 2018 stellte der US-Kongress 450 Millionen US-Dollar zur Verfügung, um die Möglichkeit einer Raumstation im Orbit des Mondes zu prüfen. Auf der Erde finden zurzeit begleitet von Wissenschaftlern und Medizinern aus verschiedenen Ländern Simulationen statt, um alle mit dem Faktor Mensch verbundenen Risiken zu identifizieren. Bei SIRIUS arbeiten auch Russland und die USA zusammen, um das menschliche Verhalten während langandauernden Weltraummissionen zum Mond oder Mars zu untersuchen und mögliche gesundheitliche Risiken zu erkennen, die unter den extremen Bedingungen eines Weltraumaufenthaltes auftreten können.
Um die Risiken zu minimieren, testen die Wissenschaftler die Auswirkungen von Stress, Leistungsdruck und Isolation auf die menschliche Psyche. Die Isolationsstation auf der Erde ist der exakte Nachbau einer Raumstation. Sie besteht aus fünf miteinander verbundenen Modulen mit einer autonomen Atmosphäre und einem autonomen Druck im Inneren. Dies wird für eine lange Zeit das zu Hause und die Arbeitsstätte von sechs Testpersonen sein, darunter bin ich.
Das SIRIUS-Projekt ist auf bis zu fünf Jahre ausgelegt. In dieser Zeit sind mehrere Isolationsexperimente mit einer Dauer zwischen vier und zwölf Monaten geplant. Ein Testlauf startete im November 2017 und dauerte 17 Tage. Am 19. März 2019 begann unser viermonatiges Experiment mit einer Besatzung bestehend aus:
Evgeni Tarelkin, Kommandant, Pilot und Astronaut, Held Russlands, pensionierter Oberstleutnant der Luftwaffe;
Daria Schidowa, Ingenieurin, beschäftigt beim Raketenbauer und Weltraumtechnikunternehmen Energia;
Stephania Fedeye, Chirurgin, Junior Research Associate IBMP;
Reinhold Powilaitis, Crewmitglied 1, Ingenieur und Research Analyst beim LROC;
Allen Mirkadyrow, Crewmitglied 2, Weltraumingenieur bei der Nasa;
Ich, Anastasia Stepanowa, Crewmitglied 3, Journalistin, Ingenieurin, beschäftigt beim IBMP.
Astronauten sagen, dass die Vorbereitung auf eine Weltraummission viel schwieriger sei, als der Flug selbst. Nachdem ich nun vier Monate an einer Simulation eines Mondfluges teilgenommen habe und drei Monate Vorbereitung hinter mir habe, glaube ich das auch.
Vor einem halben Jahr begann der Bewerbungsprozess. Russische Bewerber schickten ihre Unterlagen ans IBMP, US-amerikanische an das Nasa Human Research Program. Voraussetzung war ein Abschluss in Medizin, Ingenieurwesen oder einem anderen naturwissenschaftlichen Fach. Bewerber durften keine chronischen Krankheiten haben, mussten über 28 Jahre alt sein, durften eine Körpergröße von 1,90 m nicht überschreiten und mussten die russische und englische Sprache beherrschen.
Zuerst wurden wir ärztlich untersucht. Danach blieben nicht mehr viele Kandidaten übrig. Die zehn verbliebenen Bewerber starteten drei Monate vor dem SIRIUS-19-Projekt mit den Vorbereitungen. Erst eine Woche vor dem Start stand die Besatzung fest. Es sollten drei Männer und drei Frauen sein. Zudem gab es zwei Ersatzbesatzungsmitglieder, die bei uns blieben, bis die Luke geschlossen wurde.
Das Training war sehr intensiv, von acht Uhr morgens bis spät abends, manchmal auch am Wochenende. Wir lernten, wie man Experimente durchführt, und machten Tests, um die Grenzen unserer physischen und kognitiven Funktionen zu erforschen. Ohne SIRIUS-19 wäre ich nie von so vielen Ärzten untersucht worden und hätte so viele, zum Teil ungewöhnliche, medizinische Tests durchlaufen. Zum Beispiel wurde vor und nach dem Projekt unser Gesäß mit Ultraschall untersucht, um Veränderungen beim Körperfettanteil feststellen zu können.
Bei den Vorbereitungen und während des Projekts mussten wir beispielsweise ein 24-Stunden-EKG durchführen. Die Sensoren der Geräte, die von der medizinischen Fakultät der Universität Berlin bereitgestellt wurden, konnte man unter der Kleidung verstecken, was sich auch empfiehlt. Das Gerät bestand aus einer Nasenkanüle und zwölf Sensoren, die an Kopf, Hals, Brust, Beinen und Fingern angebracht wurden. Das Gerät zeichnete die physiologischen Parameter des kardiorespiratorischen Systems einer Person im Schlaf- und Wachzustand auf. Man erhofft sich Erkenntnisse über die Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems, bei Stress und bei der Schlafqualität durch die Isolation.
Zusätzlich testeten die Wissenschaftler unsere Schmerzschwelle. Nein, niemand hat uns gefoltert, alles war sehr menschlich. Sie verwendeten ein kleines Gerät, das auch auf der ISS zum Einsatz kommt. Der Tester legt den Mittelfinger seiner rechten Hand in das Gerät, drückt dann den Ein- / Ausschalter und hält ihn, während das Gerät zunehmend Druck auf die Fingerkuppe ausübt. Wenn ein unangenehmes Gefühl auftritt, lässt der Tester die Taste los. Der digitale Wert des Fingerdrucks ist die Schmerzschwelle.
Insgesamt mussten wir an uns mehr als 80 weltraummedizinische Experimente durchführen. Natürlich kann man sich nicht alles auf einmal merken, deshalb haben wir die detaillierten Anweisungen immer wieder wiederholt. Dazu kommen das körperliche Training, das Studium des Forschungsprogramms, ständige Auftritte in den Medien, Vorträge auf Konferenzen und psychologische Tests. Alles gleichzeitig.
Die Besatzung verbrachte die letzten zwei Tage vor Beginn des Isolationsexperiments in Quarantäne, um praktisch steril an Bord der Station zu gelangen. Auf der Isolationsstation hatten wir nur noch minimalen Kontakt zur Außenwelt. Wir konnten kurz Luft holen und haben festgestellt, dass wir uns auf den Moment freuen, wenn die Luke sich schließen wird und wir auf uns alleingestellt sein werden, neue Seiten an uns entdecken und neue Freunde kennenlernen können.
Wenn ich gefragt werde, was das schwierigste an vier Monaten Isolation ist, dann werden mir als erstes die drei Monate Vorbereitungszeit mit all der Aufregung und dem Stress einfallen.
Fortsetzung folgt…
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