Warum versenkten russische Wissenschaftler einen gigantischen Detektor im Baikalsee?

Kirill Schipitsin/Sputnik
Jeden der vergangenen Winter haben Physiker Glaskugeln im Baikalsee versenkt. Sie bauen ein Neutrino-Teleskop. Ziel ist es, Erkenntnisse über das Universum zu erlangen. Das Neutrino-Teleskop bietet nach seiner Inbetriebnahme ungeahnte Möglichkeiten.

Es ist März. Ein Traktor mit einer riesigen kreisförmigen Klinge bewegt sich langsam über den zugefrorenen Baikalsee. Die Klinge durchschneidet das Eis bis zum Wasser. Etwas entfernt stehen ein Dutzend Menschen in orangefarbenen Jacken und entwirren ein sehr langes Kabel, an dem Glaskugeln und Sensoren befestigt sind. Es soll im See versenkt werden, auf 750 bis 1.300 Meter.

An der „Girlande“ wird seit 2015 gebaut. Jahr für Jahr, jeden Winter und Frühjahr kommen Wissenschaftler und Ingenieure zum Baikalsee, um Cluster des größten Neutrino-Teleskops der Welt zu installieren - des Baikal-GVD [Gigaton Volume Detektor]. Mitte März 2021 wurde es offiziell in Betrieb genommen und die Forscher begannen mit Experimenten, die unser gesamtes Verständnis des Universums auf den Kopf stellen könnten.

Wozu wird das Teleskop benötigt?

Nun, das Wichtigste zuerst. Neutrinos sind ultraleichte Partikel, die das Universum und alles darin durchdringen. Während Sie diese Zeile lesen, sind bereits Billiarden (1 gefolgt von 15 Nullen) Neutrinos durch Sie hindurch gegangen, die acht Minuten zuvor im Zentrum der Sonne entstanden sind. Aber Sie werden es nicht einmal gespürt haben, und dies ist ein weiteres wichtiges Merkmal von Neutrinos.

Neutrinos haben sehr wenig Wechselwirkung mit Materie. Zum Beispiel trifft nicht mehr als eines von 10¹⁶ solaren Neutrinos auch nur ein Atom des menschlichen Körpers. Elementarteilchen sind füreinander halbtransparent - sie können aufeinandertreffen, kollidieren aber in der Regel nicht. Es dauerte 26 Jahre, bis Wissenschaftler zum ersten Mal eine Kollision entdecken und somit beweisen konnten, dass Neutrinos nicht nur theoretisch existieren. Das war 1956. Zugegeben, seitdem hat es keinen großen Erkenntnisgewinn über Neutrinos gegeben.

Bekannt ist lediglich, dass Neutrinos wahnsinnig leicht sind (selbst das schwerste Neutrino wiegt millionenfach weniger als ein Elektron) und dass sie unterschiedlicher Herkunft sind.  Neutrinos werden kontinuierlich in der Sonne, in der Erde, in der Atmosphäre, in Kernreaktoren und in entstehenden oder sterbenden Galaxien, Sternen und anderen astrophysikalischen Quellen „geboren“.

Das Baikal-Teleskop soll Neutrino-Ströme mit ultrahoher Energie registrieren und untersuchen, also solche, die aus dem Weltraum angekommen sind. Aber auch andere Neutrinos können gescreent werden. Diese ziemlich seltenen „Weltraumboten“ könnten uns verraten, wie sich das Universum entwickelt hat und wie Galaxien, dunkle Materie und schwarze Löcher entstanden sind. Neutrinos haben den Wissenschaftlern von der Supernova-Sternexplosion 1987A in der großen Magellanschen Wolke erzählt, bevor Astronomen den optischen Blitz sahen.

Keine anderen Partikel sind dazu in der Lage. Auf dem Weg zur Erde werden alle elektrisch geladenen Teilchen (Protonen und Elektronen) durch Magnetfelder erheblich von ihrem Weg abgelenkt, so dass es unmöglich ist, ihre Quelle zu bestimmen, während Lichtteilchen, Photonen, ihren Zustand massiv verändern. Die ungeladenen Neutrinos reagieren nicht auf Magnetfelder und tragen unverfälschte Informationen. Sie werden nicht vom interstellaren Staub verschluckt. Das Studium der Neutrinos eröffnet somit einen neuen Forschungsansatz für das Studium des Universums, und zwar einen auffallend präzisen. Sie werden bereits als Tor zu einer „neuen Physik“ beschrieben. Darüber hinaus kann keine andere Beobachtungsmethode - von der Erde oder vom Weltraum aus – so tief in das Universum schauen.

Wie sieht das Teleskop aus und warum ist sein Standort der Baikalsee?

Schon im letzten Jahrhundert wussten Wissenschaftler, dass ein Neutrino mit Hilfe empfindlicher Fotodetektoren eingefangen und seine Richtung bestimmt werden kann - unter Verwendung der Intensität eines bläulichen Glühens (dafür wurde 1958 der Nobelpreis verliehen). Lichtempfindliche Detektoren können die schwachen Bursts verfolgen, die auftreten, wenn ein Neutrino mit Materie interagiert.

Um einen Effekt zu registrieren, sind jedoch Hunderte von Fotodetektoren sowie ein großes Volumen einer transparenten Substanz erforderlich, mit der das Neutrino interagieren kann. Wie könnte ein solcher Detektor gebaut werden? Und wo könnte solch ein enormes Volumen platziert werden? Eine revolutionäre Idee wurde 1980 vom sowjetischen Akademiker Moisey Markov vorgestellt: Er schlug vor, eine Vielzahl von Fotodetektoren in natürliche Wasserreservoirs einzulassen.  

Die größte und bekannteste Installation dieses Typs ist das IceCube-Neutrino-Teleskop in der Antarktis. Es ist buchstäblich ein Eiswürfel mit einem Volumen von einem Kubikkilometer und im antarktischen Eis eingebetteten Fotodetektoren.

Im Baikalsee wurde 1993 das erste Neutrino-Teleskop gebaut, das als NT-36 bezeichnet wurde. Zum ersten Mal konnte ein Neutrino registriert werden, das von unten an der Anlage ankam - nachdem es die Erde durchdrungen hatte. Das Teleskop war jedoch veraltet und einfach zu klein, um weitere Fortschritte zu erzielen.

Es wurde durch das moderne Baikal-GVD-Array ersetzt, das von einer internationalen Gruppe von Physikern unter der Leitung des Instituts für Kernforschung der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau und des Gemeinsamen Instituts für Kernforschung in Dubna gebaut wurde. Es besteht aus 288 optischen Modulen auf acht vertikalen Reihen. Somit ist das Neutrino-Teleskop effektiv die höchste Struktur in Russland geworden. Nur zu sehen ist sie nicht, denn sie liegt im Wasser, 3,5 Kilometer vom Ufer entfernt.  

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