Warum ist die russische Gesellschaft nicht bereit, Flüchtlinge aufzunehmen?

Alexey Malgavko/RIA Novosti
Laut einem Bericht von Amnesty International sind lediglich 33 Prozent der russischen Bevölkerung dazu bereit, Flüchtlinge in ihrem Land aufzunehmen. Nur ein Prozent der Befragten würde geflüchtete Menschen in ihrem eigenen Haus aufnehmen. Experten machen Medien und die Wirtschaftskrise verantwortlich.

Vor zwei Jahren floh Faiz (Name geändert) vor dem verheerenden Krieg in Syrien. Er kam mit einem Touristenvisum nach Russland. Als sein Visum auslief, beantragte er Asyl – und wurde abgelehnt. Faiz, der die russische Sprache beherrscht, hatte Probleme, eine Arbeit zu finden. Niemand schien einen Menschen einstellen zu wollen, der aus einer anderen Kultur stammt und mit einem starken Akzent spricht.

„Russland hat mich nicht akzeptiert. Damit meine ich nicht nur die Ablehnung meines Asylantrags. Ich spreche von der russischen Gesellschaft. Für die Menschen war ich fremd. Vermieter wollten nichts mit mir zu tun haben oder forderten Summen, die dreimal höher waren als üblich“, erinnert sich Faiz. „Viele fragten mich: Warum bist du hier? Geh' zurück! Aber ich will nicht zurück. Ich will nur eins: ein friedliches und ruhiges Leben.“

Die Geschichte von Faiz ist kein Einzelfall. Laut einem Bericht von Amnesty International, der unter dem Titel „Rating der Loyalität gegenüber Flüchtlingen“ erschienen ist, ist die russische Bevölkerung die intoleranteste gegenüber Flüchtlingen. Lediglich 33 Prozent der befragten Russen gaben an, dass sie bereit seien, Menschen in ihrem Land aufzunehmen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind. Nur ein Prozent würde Flüchtlinge bei sich zuhause aufnehmen. Im Ranking der Loyalität gegenüber Flüchtlingen landeten die Russen damit weltweit auf dem letzten Platz.

Unterschiedliche Einstellung gegenüber Flüchtlingen aus Syrien und der Ukraine

Galina Negustrujewa, Beraterin für Informationen des UNHCR (UN-Flüchtlingshilfe), erklärt das mit der aktiven Propaganda der russischen Medien, die über Probleme mit Flüchtlingen in der Europäischen Union berichteten. „Jeden Tag zeigt und erzählt man uns, dass Flüchtlinge schlechte Menschen wären. Viele von ihnen seien Kriminelle und Terroristen. Sie würden wegen des einfachen Lebens und hohen Sozialleistungen nach Europa kommen. Wie soll die russische Bevölkerung nach all dieser Propaganda tolerant gegenüber Flüchtlingen sein?“, fragt Negrustujewa.

Anders stellt sich die Haltung der Russen gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine dar, mit denen man durch einen gemeinsamen kulturellen und historischen Hintergrund verbunden ist.

Igor Solodenko, ein Flüchtling aus dem Südosten der Ukraine, kam vor zwei Jahren nach Moskau. Zunächst arbeitete er als Kurier, später wurde er als Sicherheitskraft eingestellt. Solodenko ist sehr dankbar, dass er bei einer Russin im Geschäft arbeiten konnte: „Sie versorgte mich mit Lebensmitteln und half mir, eine Wohnung zu finden. Ich bin ihr sehr dankbar. Die Menschen hier sind sehr entgegenkommend, auch wenn die Bürokratie immer Sorgen bereitet.“

Anastasia Jarymocha, die aus Donezk floh, teilt diese Erfahrungen: „Man ging mit uns sehr gut um. Wenn man sich wie ein gut erzogener Mensch benimmt, sind alle sehr positiv und bereit, unsere Lage zu verstehen. Unser Kind kam hier zur Welt, viele Einheimische haben uns mit Kindersachen und Geschirr geholfen.“ Flüchtlinge aus der Ukraine und Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika werden von den Russen unterschiedlich wahrgenommen.

„Flüchtlinge aus dem Südosten der Ukraine sind überwiegend ethnische Russen. Äußerlich gibt es keinen Unterschied. Sie werden auf der Straße nicht angehalten“, sagt Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende des Komitees für Bürgerliche Hilfe, einer gemeinnützigen Organisation, die Flüchtlingen und Vertriebenen hilft. „Der Ausbruch von patriotischen Gefühlen im Frühjahr 2014 hat ebenfalls eine Rolle gespielt. Der Großteil der Russen ist tolerant gegenüber Ukrainern und ist bereit, ihnen zu helfen.“

Nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern die hohe Arbeitslosigkeit ist das Problem

Michail Tschernysch, Doktor der soziologischen Wissenschaften vom Institut für Soziologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften, glaubt, dass die intolerante Haltung der Russen gegenüber Flüchtlingen mit der Wirtschaftskrise zusammenhänge. Man habe Angst, dass Flüchtlinge Arbeitsplätze wegnehmen könnten.

„In Russland verursacht der Strom von Migranten und Flüchtlingen stets Massenentlassungen. Für den Arbeitgeber ist es viel billiger, einen illegalen Flüchtling einzustellen als einen Einheimischen. Flüchtlinge sind dabei nicht das Problem. Das Problem liegt im System. Es gibt keine effektiven Gewerkschaften, die Rechte der Arbeitnehmer werden nicht wirklich geschützt“, so der Experte.

Dafür spricht die Erfahrung von Anastasia Jarymocha aus Donezk: „Eine Frau im Zug hörte aus dem Gespräch mit meinem Mann, dass wir aus der Ukraine kommen, und bezeichnete uns als Schmarotzer, die den Russen die Arbeit wegnehmen würden.“

Dabei sei Fremdenfeindlichkeit laut Michail Tschernysch nicht typisch für die russische Gesellschaft. „Russland ist ein multiethnisches Land. Fast jeder hat seit der Kindheit Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen in seiner Umgebung. Hier geht es nicht um Fremdenfeindlichkeit.“

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