Freiheit und Verantwortung – Erinnerungen an Helmut Schmidt

Dmitrij Diwin
Zum Tode von Helmut Schmidt würdigt der russische Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow den fünften Kanzler der Bundesrepublik als klugen, pragmatischen und einzigartigen Charakter.

Das zwanzigste Jahrhundert geht immer weiter in die Geschichte ein – nicht nur chronologisch dem Kalender nach, sondern auch substanziell. Neue Aufwallungen, Stürme und Erschütterungen verdrängen das, was einst war, immer mehr, obwohl die Wurzeln der meisten heutigen Ereignisse ins vergangene Jahrhundert reichen. Und es fällt schwer, nicht zu vergleichen – nicht unbedingt zwischen den Ereignissen von damals und heute als vielmehr zwischen dem Vermögen, Antworten auf gefährliche Wendungen zu finden und Krisen zu meistern. Und es fällt schwer, nicht zu vergleichen zwischen dem Kaliber der Politiker, die heute das Ruder in der Hand halten, und denen, die es einstmals hielten.

Helmut Schmidt starb in seiner Heimatstadt Hamburg kurz vor Erreichen des 97. Lebensjahres in Frieden. Schmidt war einer der größten europäischen Politiker des vergangenen Jahrhunderts. Und dabei ein echter Intellektueller, ein Mensch von tiefem, durchdringendem Geist, ein Pragmatiker, der das Pathos verschmähte, doch frei von auch nur einem Funken Zynismus war. Ich hatte das Glück, Helmut Schmidt während seines Besuchs in Moskau vor zwölf Jahren zu begegnen. Damals hielt er eine Rede und diskutierte gern die Weltprobleme – mit den Altgedienten, die er von den einstigen Schlachten des Kalten Krieges und der Entspannungsperiode her kannte, aber auch mit jungen Zuhörern.

Eine einzigartige Persönlichkeit

In den damaligen Gesprächen wie auch in den Büchern, die er bis zuletzt schrieb und verlegte, stach Schmidt durch seine lakonischen und absolut treffenden Bewertungen heraus, vor allem aber durch die komplexe Sicht der Prozesse, durch das Verständnis von Zusammenhängen zwischen Geschichte, Politik, Gesellschaft und dem Menschen. Ich muss zugeben, dass nur zwei weitere Führungspersönlichkeiten auf mich einen ähnlich starken intellektuellen Eindruck machten: der in diesem Jahr verstorbene Gründer Singapurs Lee Kuan Yew und der heute noch unter uns weilende ehemalige US-Staatssekretär Henry Kissinger. Bei all den Unterschieden ihrer Ansichten (Kissinger – eine Konservativer, Schmidt – ein Sozialdemokrat, Lee hielt jedwede Ideologie für Unsinn) verband sie eine Eigenschaft: die Kombination von tiefer Geistigkeit und praktischer Lebensweisheit. Ein Politiker muss ja nicht klug sein, Intuition und ein offensiver Charakter sind für ihn wichtiger. Umso mehr begeistern solche einzigartigen politischen Persönlichkeiten, die außer den üblichen Eigenschaften einen wahrhaft umspannenden Geist aufweisen.

Es ist wohl nicht überraschend, dass sie, wenn Schmidt auch der Älteste war, einer Generation angehören. Sie alle waren Teil der großen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass es ihr Los war, anstatt der alten, durch die Katastrophen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zerstörten Welt eine neue zu errichten. Krieg und Frieden, Souveränität und Unabhängigkeit, Diplomatie und die Zukunft der Länder und Völker betreffende Entscheidungen waren für sie keine abstrakten Begriffe aus dem Lehrbuch, sondern alltägliche Arbeit. Daher die von politischen Anführern der Generation Schmidt (von den besten von ihnen) angeeignete Fähigkeit, das Wichtige von Aufgetragenem zu unterscheiden, sich von Eitelkeiten zu befreien und auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und natürlich ihr Verständnis für die Kontinuität der Geschichte, mit der man nur umgehen kann, indem man realistisch einschätzt, was genau heute möglich und notwendig ist.

Ein furchtloser Pragmatiker

Der Pragmatismus Helmut Schmidts, den er in den langen Jahren seiner Karriere vielfach demonstrierte, hat nie und in keiner Weise Prinzipienlosigkeit bedeutet. Im Gegenteil: Er wusste, dass Flexibilität bei Kleinigkeiten und die Fähigkeit, scharfe Kanten nach Möglichkeit zu umgehen, es ermöglichen, den einst gewählten Prinzipien – der Idee des Friedens und des Gemeinwohls – treu zu bleiben.  

Das Entscheidende, das Schmidt, Lee, Kissinger und eine Reihe weiterer großer Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts wohl ausmachte, war das Gefühl der Freiheit. Einer Freiheit, die nicht in Mantras und Dogmen zum Ausdruck kommt, wie es heute oft geschieht, sondern im bewussten Folgen der eigenen Linie, die sie für richtig hielten. Selbst ein solch witziges und nach heutigen Maßstäben keineswegs politisch korrektes Detail wie Schmidts ständiges Rauchen unterstrich diese Eigenschaft – die Bereitschaft, allgemein anerkannte Vorstellungen und Verhaltensformen zu durchkreuzen. Dies ist ein anekdotisches Moment. Aber auch in der Politik und in der politischen Idee fürchtete Schmidt sich nie, Stereotypen entgegenzuwirken.

In seiner Rede, die er vor zwölf Jahren in Moskau hielt, war Verantwortung der zentrale Begriff. Die Verantwortung politischer Anführer für Stabilität, Frieden, Entwicklung und die Zukunft. Helmut Schmidt konnte diese übernehmen und erwartete das Gleiche von anderen. Er hoffte auf eine neue Generation, die – wie einst seine eigene – nach einer Periode von Unruhen anfangen würde, eine neue Welt zu erschaffen. Wahrscheinlich wird sie auch kommen – früher oder später. Obwohl gegenwärtig das Dahinscheiden der Menschen von Schmidts Kaliber nur noch deutlicher zu verstehen gibt, wie sehr die Landschaft ausgedünnt ist.

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Global Affairs“

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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