Wie das "Ё" zum Sonderling des russischen Alphabets wurde

Bildung
KSENIA SUBATSCHJOWA
Lew oder Ljow Tolstoi? Nikolas Rerich oder Rjorich? Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie diese berühmten russischen Namen die ganze Zeit falsch ausgesprochen haben, denn...

Als stolze Besitzerin eines russischen Familiennamens mit einem "ё“ [jo] habe ich immer wieder auch ein Problem: Ich bekomme es in offiziellen Dokumenten nie richtig geschrieben. Зубачёва auf Russisch müsste richtig Zubachyova (englisch) oder Subatschjowa (deutsch) transliteriert werden. Die russischen Behörden sind in internationalen Dokumenten angehalten, die englische Transliteration zu verwenden.

In meinem ersten Pass stand von Anfang an "Zubacheva" (Зубачева) und, obwohl meine Eltern in der gleichen Situation waren, haben wir nie versucht, den Teufelskreis zu durchbrechen, weil es zu schwierig schien, die Papiere alle zu wechseln (in Russland, das nicht gerade als Bürokratie-Paradies gilt).

Für mich war das einzige Problem, das sich aus der falschen Schreibweise ergab, die falsche Aussprache meines Namens in der Öffentlichkeit, in der Schule oder an der Universität. Dabei können Namen in verschiedenen Schreibweisen in verschiedenen Dokumenten auch viel ernsthaftere Kopfschmerzen im Umgang mit Staatsorganen bedeuten.

So wurden beispielsweise dieses Jahr einer dreifachen Mutter aus Kaliningrad staatliche Sozialleistungen verweigert, weil ihr Nachname auf den Geburtsurkunden der Kinder anders geschrieben war. Ein Dokument schrieb "e“ [je], ein anderes "ё“ [jo]. 

Und das ist nur ein Fall. Ob Mutterschaftsleistungen, Renten, eine Erbschaft oder eine bestimmte Anfrage einer Person bei einer offiziellen Institution - die Schreib-Diskrepanz wird fast immer eine Ablehnung bedeuten, was zu mehr Papierkram und verschwendeter Zeit führt.

Der Jüngste im Alphabet

Das "ё“ [jo] entstand vor etwa 235 Jahren und ist der jüngste Buchstabe im russischen Alphabet. Der Klang "jo" war jedoch schon früher da. Im Altrussischen wurde zwar stattdessen noch  "je" in Wörtern wie "сестры“ [Schwestern] verwendet, im 18. Jahrhundert tauchte dann jedoch in der allgemeinen Volkssprache auch schon das „jo“ auf, welches man dann auch langsam in der literarischen Sprache benutzte.

Um die Darstellung des Klangs zu erleichtern, schlug Prinzessin Jekaterina Daschkova vor, einen speziellen Buchstaben zu entwickeln, der den alten "io"-Umlaut ersetzen sollte, der zuvor für die Darstellung des Klangs verwendet wurde. Im Jahr 1783 boten die Russische Akademie und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Schriftsteller Nikolaj Karamsin ihre Unterstützung an. So wurde wurde das neue "ё“ [jo] Umlauf gebracht.

"Ё" wurde jedoch nicht sofort Teil des Alphabets und seine Verwendung blieb optional. Viele würden einfach die Punkte in beliebten Wörtern auslassen, um die korrekte Aussprache zu spezifizieren, um Zeit beim Schreiben und später beim Tippen zu sparen (zusätzliche Punkte mussten separat eingegeben werden).

Stalins Wille?

Zu Sowjetzeiten geriet das "ё" in größeres Rampenlicht. Angeblich soll Josef Stalin persönlich in den 1940er Jahren wütend auf ein Dokument geworden sein, in dem seine Generäle alle mit "e" statt "ё" tituliert wurden. Am nächsten Tag begann die Presse, allen voran das Propaganda-Organ „Prawda“, das "ё" in ihrer Printausgabe zu verwenden. Per Dekret über die obligatorische Verwendung von "ё" in Schulen wurde "jo" dann 1942 offiziell Teil des russischen Alphabets. 

Im Jahr 1956 wurden die überarbeiteten Rechtschreibregeln, die die Fälle für die verpflichtende Verwendung von "ё" bestimmten, veröffentlicht. Ihnen zufolge sollte "ё" in drei Fällen anstelle von "e" verwendet werden: 

1. um die Verwechslung eines Wortes mit einem anderen zu vermeiden

- wie z.B. "передохнем" ["wir werden sterben"] - "передохнём" ["wir machen eine Pause "];

"поем "["ich werde essen "] - "поём ["wir singen"])

2. um die Schreibweise eines wenig bekannten Wortes zu spezifizieren

3. für Lehrzwecke in Lehrbüchern. 

Die Regeln gelten bis heute, insbesondere in der Presse und im Verlagswesen. Aber als die Kontrolle des Staates nachließ, vermied die Presse die weit verbreitete Verwendung von "ё" aufgrund der technischen Komplexität. Im Großen und Ganzen ist die Verwendung von "ё" bisher eher optional.

Die Verwirrung bleibt

Das Fehlen zwingender Regeln für die Verwendung von "ё" führte jedoch weiter dazu, dass viele berühmte Namen und Familiennamen falsch geschrieben und folglich auch nicht immer richtig ausgesprochen wurden. Nehmen wir zum Beispiel Leo Tolstoi. In Russisch wird sein Name als "Lew" geschrieben, aber in Wirklichkeit wollte er selbst gemäß einer russischen Tradition als Ljow (Лёв) ausgesprochen werden. So nannten ihn seine Familie und Freunde.

Oder der Nachname des russischen Malers Nikolas Roerich: Ursprünglich wurde er mit "ё“ [jo] geschrieben und Rjorich (Рёрих) ausgesprochen. Aber weil viele die Punkte auslassen, entstand als Roerich (Рерих).

Nach wissenschaftlichen Schätzungen gibt es rund 13.500 Wörter mit "ё [jo]", sowie 2.750 Nachnamen und 1.650 Namen. Hunderte Nachnamen unterscheiden sich nur durch die Verwendung von "e" oder "ё", zum Beispiel Leschnjew und Leschnjow, Demin und Djomin.

Das Fehlen einer offiziellen gesetzlichen Bestimmung, die die Verwendung von "ё“ [jo] in Namen vorschreibt, bedeutet, dass diejenigen mit Widersprüchen in Dokumenten nun zwei Optionen haben, so der Anwalt Wladimir Schalajew von der Kanzlei BMS. Entweder man müsse rechtskräftig gegen die Verweigerung ihrer Dokumente vorgehen oder notwendige Änderungen an den Dokumenten über Standesamt oder Gericht vornehmen. Während solche Fälle in der Regel nicht lange dauern und nicht viel kosten, scheint es doch immer noch zu viel Ärger zu machen.

Manche schreiben es, manche nicht

Die Diskussion über den Status von "ё" läuft seit einiger Zeit. Einige sagen, dass es keine große Sache ist, nichts würde sich ernsthaft ändern, wenn "" ё "optional bliebe.

"Ich habe wirklich Verständnis für ё, aber als Sprachwissenschaftler verstehe ich, dass das Thema (...) enorm übertrieben ist", sagt Ilja Itkin, Research Fellow an der Higher School of Economics in Moskau. "Es ist mehr als 200 Jahre alt, und wenn es in russischen Texten nicht die ganze Zeit verpflichtend war, dann bedeutet es, dass, wenn es so weitergeht, nichts sehr Ernstes mit der Sprache, der Gesellschaft oder der Kultur geschehen wird." 

"Dafür ist ebenso sinnlos wie dagegen anzukämpfen", meint der russische Designer Ilja Birman. "Wenn Sie es mögen - benutzen Sie es, wenn nicht - nicht. Ich benutze es gerne, weil ich keinen Grund sehe, es nicht zu tun. Eine russisch sprechende Person sollte in der Lage sein, in beide Richtungen zu lesen - mit und ohne ё."

"In der heutigen computerdominierten Welt kann die Suche nach einer bestimmten Person mit einem Namen, der ё enthält, zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen. Wer weiß, wie eine Person ihren Namen in die Datenbank eingibt? Hat der Programmentwickler das Problem vorhergesehen?", fragt Nikolaj Schumskij, Gründer von "For Yo!“ (Za Ё!) in Russlands führendem sozialen Netzwerk VK. "Die Situation kann durch Transliteration weiter verschlechtert werden. Die Russen können sich mit den Varianten Artjom und Artjem auseinandersetzen, aber Ausländer könnten sich damit schwer tun."

Man könne unmöglich Tausende von Wörtern mit "ё" verstehen, ohne dem Buchstaben seinen rechtmäßigen Status zu geben, meint Jewgenij Ptschelow, Co-Autor des Buches "Zwei Jahrhunderte des russischen Buchstaben JO. Geschichte und Lexikon und außerordentlicher Professor an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften. "Es ist absurd zu denken, dass Russisch sprechende Menschen automatisch verstehen, wo ё verwendet werden soll und darf. Sonst gäbe es keine falschen Aussprachen wie bei свёкла (Rote Bete) oder афёра (Betrug), wobei ё gar nicht erscheinen sollte", erklärt er.

Er argumentiert daher, dass die Verwendung von "ё" in heutigen Texten zwingende Praxis sein sollte, zumindest aus Respekt für die russische Sprache und das kulturelle Erbe.

"Gibt es eine andere Sprache, die einen optionalen Buchstaben hat? Ich bezweifle das."

Mehr zum Thema lesen Sie hier:

>>> Russisch will gekonnt sein: Diese Vokabeln bringen Ausländer um den Verstand

>>> Überlebenstipps: Der richtige Umgang mit der russischen Bürokratie

>>> Warum Russen Klammern statt Emoticons verwenden

>>> Sprechen mit Russen: Wie Sie auf "Kak dela?" antworten können

>>> Google-Fragen: Welche Sprachen spricht man in Russland – außer Russisch?

>>> Wann sagen Russen "Sorry“? Und wer ist Sorjan Sorjanitsch?

>>> Die fünf häufigsten Fehler, die jeder Russischlerner macht