Die Schrecken der zaristischen Gymnasien: Warum es schwierig war, im Russischen Reich zu lernen?

Bildung
OLEG JEGOROW
Karzer und Ruten, Paukerei und Unterwürfigkeit – das Lernen im vorrevolutionären Russland war eine echte Herausforderung für Gymnasiasten. Und selbst unter diesen Bedingungen war Bildung ein Luxus, den sich nicht jeder leisten konnte.

„Oh, mein Gott! Wie abstoßend mir das alles schien“, so beschrieb der Dramatiker Sergej Aksakow (1791 – 1859), Nachkomme eines alten Adelsgeschlechts, seine ersten Eindrücke vom Studium am Kasaner Gymnasium. In seinen Memoiren listet Aksakow ausführlich die Quälereien auf, denen die Gymnasiasten ausgesetzt waren: die Kälte in den Räumen, das das Aufstehen beim ersten Hahnenschrei, der Kampf um ein Platz am Waschbecken am Morgen, der Marsch zum Gebet, die kärgliche Verpflegung.

Die Bedingungen, unter denen die Gymnasiasten lebten, waren in der Tat hart, obwohl sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits viel lockerer geworden waren als zu Zeiten Aksakows, der 1801 am Gymnasium lernte. Dennoch könnte sich jeder Gymnasiast, selbst der verängstigte, im Vergleich zur überwiegenden Mehrheit seiner Landsleute als privilegiert betrachten.

Bildung nicht für jedermann

Die allgemeine Schulbildung wurde in Russland erst nach 1917 unter den Bolschewiki eingeführt. Während der Zarenzeit konnte der größte Teil der Bevölkerung des Landes nicht einmal lesen oder schreiben (die erste Volkszählung des Russischen Reiches 1897 ergab, dass zwei Drittel der Bevölkerung Analphabeten waren).

Als renommierteste Bildungseinrichtung galt das siebenjährige klassische Gymnasium, in dem in der Regel Kinder aus den wohlhabenden Familien – Adel, begütertes Bürgertum und erfolgreiche Vertreter anderer Stände (vor allem die städtischen Intellektuellen) – studierten. Die Kinder einfacher Menschen besuchten eine Land- oder Realschule. Normalerweise war es nur mit dem Abschluss eines Gymnasiums möglich, an einer Universität zu studieren.  

Für den Unterricht an Gymnasien musste ein Schuldgeld bezahlt werden, das für Wohlhabende jedoch erschwinglich war: Die Jahresgebühr betrug etwa 25 Rubel, was etwa dem Monatsgehalt eines Arbeiters entsprach. „Die Behörden setzten das Schulgeld so hoch an, um den Weg in das Gymnasium für Menschen aus armen Verhältnissen zu erschweren, deren Eltern wollten, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollten“, erklärt Alexej Ljubschin, Autor der Monographie „Die Geschichte der russischen Schule zur Zarenzeit“.

1887 verfasste die Regierung sogar ein „Rundschreiben zu den Kindern von Küchenfrauen“, in dem empfohlen wurde, Kinder aus armen Familien nicht in das Gymnasium aufzunehmen. Die Behörden befürchteten, dass arme, aber gebildete Menschen das Land zur Revolution führen würden. Ihre Befürchtungen sollten sich letztendlich bewahrheiten.

Eiserne Disziplin

Für die Glücklichen, die an das Gymnasium aufgenommen wurden, begannen nun harte Zeiten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die körperliche Züchtigung weit verbreitet – Vergehen in den unteren Klassenstufen wurden mit dem Ochsenziemer bestraft. „Die Rute wird immer eine der dunkelsten Seiten in der Geschichte unserer Schule bleiben“, schrieb der Schriftsteller Pawel Sasodimskij. Kein einziger vernünftiger Mensch ist aus den Schülern geworden, denen der Hintern versohlt wurde, nur Trunkenbolde, Wüstlinge und Strolche kamen dabei heraus“.

Mit der Zeit wurde die Rute jedoch seltener verwendet, und die Dienstvorschrift von 1864 verbot sie schließlich offiziell. Es ist bemerkenswert, dass der Entwurf dieser Dienstvorschrift, der an ausländische Kollegen verschickt wurde, die englischen und deutschen Lehrer empörte. Sie waren der Meinung, dass die körperliche Züchtigung nicht abgeschafft werden könne. So war die russische Schule in Bezug auf humanistische Lehrmethoden den europäischen Ländern voraus.

Eine weitere beliebte Strafe des 19. Jahrhunderts war der Karzer: Für besonders schwere Delikte, wie z.B. Prügelei oder das Mitbringen von Tabak in die Schule, wurden die Gymnasiasten in einen fensterlosen Raum gesperrt, in dem sie fünf bis 16 Stunden lang sitzen mussten.

Die Schüler mussten auf dem Schulgelände in eine Schuluniform gekleidet sein und durften auf keinen Fall die „Ehre der Uniform“ verunglimpfen, auch nicht in ihrer Freizeit. Noch strengere Regeln galten für die Schülerinnen von Mädchengymnasien und -Hochschulen (die natürlich getrennt von den Hochschulen für Männer waren).  „Es war den Gymnasiastinnen verboten, nach 20 Uhr das Haus zu verlassen, auf Bänken in der Nähe von Geschäften zu sitzen, ein Kino zu besuchen oder an einem Militärball teilzunehmen“, erzählt Walerij Kruschinow, Doktor der Geschichtswissenschaften. Auch um ins Theater gehen zu dürfen, war eine Genehmigung erforderlich.

Gottesglaube und Latein

Der Unterricht am Gymnasium basierte auf einem strengen ideologischen Diktat: Die Schüler  mussten dem Zaren und der Religion treu sein. Deshalb wurde vor dem Unterricht die Hymne „Gott, schütze den Zaren!“ gesungen und einer der Unterrichtsschwerpunkte war die Religion. „Sie wurde in allen Klassen unterrichtet und hatte nicht nur eine moralische, sondern auch eine ideologische Funktion“, erklärt Kruschinow.

Andererseits konnten die Schüler ihren Glauben frei wählen: Die Verordnung des Zaren von 1829 verpflichtete die Schulen, je nach Konfession der Schüler einen Religionslehrer zu ernennen. Aber das Latein-Pauken nahm den Gymnasiasten niemand ab. 

Deshalb wurden die Lehranstalten auch klassisches Gymnasium genannt, da sie dem Studium der Sprachen des Altertums – Latein und Griechisch – große Aufmerksamkeit schenkten. Und während Griechische letztendlich zum Wahlfach wurde, mussten Latein, „dieses trockene, tote Sprache“, wie es der Memoirenschreiber Dmitrij Sassosow formulierte, alle lernen.

Dieser ganze Zwang war nicht sehr effektiv. Latein wurde von allen Gymnasiasten gehasst, und der Lehre Gottes gegenüber waren sie mit zunehmendem Alter immer skeptischer eingestellt. „Persönliche Erinnerungen bezeugen, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch viele fromme Gymnasiasten gab. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt es jedoch als mutig, den Gottesdienst zu schwänzen oder das Fasten zu brechen“, sagt Andrej Scheweljow im Artikel „Subkultur der Petersburger Gymnasiasten“. Die strengen Schulregeln vermochten nicht, die Kinder zu treuen Dienern des Zaren zu erziehen – viele Gymnasiasten und Studenten unterstützten die Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts.

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