Wenn ein Ausländer Russisch lernt, hat er mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Eine davon ist das kyrillische Alphabet. Es hat im Russischen mehr Buchstaben (33) als das lateinische Alphabet im Deutschen (26) und diese sehen ganz anders aus.
Darüber hinaus gibt es zwei Buchstaben, die nicht ausgesprochen werden – Ь und Ъ, das Weichheits- und das Härtezeichen. Sie stehen (genau wie der Buchstabe Ы) niemals am Anfang eines Wortes und bezeichnen, wie das Wort auszusprechen ist. Lassen Sie uns die Bedeutung des Härtezeichens beginnen.
Überraschenderweise hat ein Russe absolut keine Probleme, wenn er liest: „Wie die Zeitung Ъ schreibt...“. Schließlich ist Ъ eine gut eingeführte Marke und das Logo des Verlagshauses КоммерсантЪ (Kommersant).
Wenn Sie bei Google „Ъ“ eingeben, ist eines der ersten Ergebnisse ein Link zum Verlagshaus Kommersant, das die angesehenste Zeitung Russlands und mehrere Zeitschriften herausgibt sowie einen Radiosender betreibt.
Der Kultur-Redakteur der Zeitung, Sergej Chodnjew, kennt weltweit keine andere derartige Publikation, die nur durch einen einzelnen Buchstaben erkennbar wäre. Abkürzungen gäbe es zur Genüge als Bezeichnung einer Zeitung, aber einen einzelnen Buchstaben, der sich zudem nicht einmal aussprechen lässt, sonst nirgends!
Das Wort Kommersant wird im Russischen eigentlich nicht mit einem Härtezeichen am Ende geschrieben. Woher stammte dieses im Namen der Zeitung?
Der Buchstabe Ъ hießt bis zur Revolution von 1917 Jer und entstammt der Glagoliza, dem kyrillischen Uralphabet. Einer der Anwendungsfälle war am Ende eines Wortes nach einem Konsonanten, um die Zugehörigkeit eines Verbs oder Substantivs (darunter auch eines Nachnamens) zum männlichen Geschlecht zu kennzeichnen: Санктъ-Петербургъ (St. Petersburg), понялъ (pónjal – dt.: er verstand), Джонатанъ Свифтъ (Jonathan Swift)... Im Straßenbild waren solche Aushänge mit dem Namen des Besitzer oder des Ladens zu sehen und man konnte solche Aufschriften lesen wie А. Бухардъ (A. Bukhard) oder Салонъ (Salon), in der Presse traf man Wörter wie журналъ (Zeitschrift) oder альманахъ (Almanach).
Mit der Rechtschreibreform von 1917 wurde das Ъ am Wortende getilgt. Dies erleichterte die Beseitigung des Analphabetums erheblich und sparte zudem etwa 4 % Platz in gedruckten Texten ein.
„In den späten Achtzigerjahren fanden es die Gründer von Kommersant psychologisch wichtig, eine Brücke von einer postsowjetischen Perestroika-Realität zur vorrevolutionären Geschichte zu schlagen“, erinnert sich Sergej Chodnjew gegenüber Russia Beyond. „Wir wollten die sowjetischen Erfahrungen und die Planwirtschaft vergessen und gleichzeitig an die Handelstraditionen erinnern, die vor 1917 existierten.“ Übrigens gab es bereits vor der Revolution eine Zeitung namens Kommersant, die auch über Wirtschaftsfragen schrieb.
Die vorrevolutionäre Rechtschreibung gefiel auch den Gründern der modernen Ladenkette МясновЪ (Mjasnow) – eine Metzgerei mit diesem Namen kann man sich gut in vorrevolutionären Ladenstraßen vorstellen. Und dieses Beispiel ist heute bei weitem nicht das einzige.
Tierhandlung im Moskau des 19. Jahrhunderts
SputnikDas Hinzufügen des Ъ am Ende des WortesKommersant ist ein semantischer Bezug auf den zaristischen Kapitalismus und damit auf guten Service und das Ringen um den Kunden. Schließlich gab es in der sowjetischen Mangelwirtschaft nahezu keine Konkurrenz unter den Geschäften.
Aber neben der inszenierten Schreibweise am Wortende hat das Härtezeichen auch noch eine andere Funktion – die Trennung von Silben. Das Ъ wird auch heute noch manchmal zwischen Präfix und Stamm eines Wortes gesetzt, wenn der Präfix auf einen Konsonanten endet und der Wortstamm mit einem Vokal beginnt. Vor der Revolution war diese Schreibweise durchgängig üblich und man schrieb съэкономить (s-ekonomitj, dt.: einsparen) und двухъаршинный (dwúch-arschínnyj, dt.: zwei Ellen lang).
Nach der Revolution wollte man auch auf diese Funktion verzichten und das Ъ durch einen Apostroph ersetzen, z.B. об’езд (ob-jésd, dt.: Umleitung), об’явление (ob-jawlénije, dt.. Bekanntmachung). Diese Idee setzte sich jedoch nicht durch.
Auch heute noch wird das Ъ zwischen Präfix und Wortstamm verwendet, aber nur, wenn der Wortstamm mit einem der vier folgenden Vokale beginnt: Е (Je), Ё (Jo), Ю (Ju) oder Я (Ja). Würde das Härtezeichen nicht gesetzt, wüsste man nicht, ob die nachfolgende Silbe mit einem J am Anfang ausgesprochen werden muss oder nicht. Schriebe man z.B. подезд statt подъезд (dt.: Hauseingang, Anfahrt), könnte dies podesd, aber auch podjesd ausgesprochen werden.
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