Es gibt viele lustige Videos auf Youtube, in denen ausländische Studenten ihre Eindrücke davon schildern, wie Russisch in ihren Ohren klingt: Manche empfinden die Sprache als unhöflich, andere behaupten, sie sei sehr melodisch und ähnle Gesang (und zwar dem von Kindern, angesichts der vielen weichen Konsonanten in der Sprache). Die meisten Ausländer teilen jedoch die Meinung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: „Alle Russen sprechen so schnell und unartikuliert, dass man ihnen einen Bildschirm mit Untertiteln vor den Kopf halten möchte.“
Doch bevor uns die Technik das Leben erleichtern wird, indem sie die Fähigkeit des Simultandolmetschens direkt in den genetischen Code einbettet, sollten wir herausfinden, welche Schwierigkeiten beim Verstehen der russischen Sprache nach dem Gehör auftreten können und wie man sie bewältigen kann.
Lassen wir die zusammenhängenden Aussagen beiseite und beginnen wir auf der Wortebene. [Éta dóm. Éta stól. A éta kót], sagt die Lehrerin und zeigt auf das Bild.
„Das ist ein Haus. Das ist ein Tisch. Und das ist eine Katze.“
Der Student wiederholt gehorsam den Nominativ Singular und glaubt an eine bessere Zukunft. [Éta damá. Éta stalý. A éta katý] – der Lehrer geht zum nächsten Bild über. Die Hoffnungen des Studenten auf eine bessere Zukunft schwinden vor seinen Augen. „Wir haben gerade die Pluralform gebildet und bemerkt, wie der Laut [A] das [O] in ein und demselben Wort ersetzt!“ – der Student ist entsetzt und flucht in seiner Muttersprache. „Reduktion!“, erklärt der Lehrer philosophisch.
„Das sind Häuser. Das sind Tische. Und das sind Katzen.“
In der Tat wird der Laut [O] im Russischen nur in betonten Silben klar und deutlich ausgesprochen, in den anderen Fällen hört sich der Buchstabe O wie [A] und manchmal sogar wie ein kurzes [Y] an (z. B. [schykalát] – Schokolade). Wenn man Russisch nur nach dem Gehör lernt, ohne den geschriebenen Text vor Augen zu haben, braucht man schon recht viel Phantasie, um zu verstehen, dass [kót] und [katý] das gleiche Tier sind, nur in einer unterschiedlichen Zahl.
Welche Schlussfolgerung lässt sich aus dieser lehrreichen Geschichte ziehen? Auch wenn Sie gerne Sprachen lernen, indem Sie einfache Sätze in Dialogen hören und nachsprechen, sollten Sie das Lesen nicht vergessen: Sieht man die geschriebenen Wörter, die sich manchmal sehr unterschiedlichen anhören, erkennt man deren gemeinsame Wurzel, z. B. дом [dóm] — Nominativ Singular – und дома [damá] – Nominativ Plural.
Wie entwickelt sich normalerweise das Verständnis einer bislang noch unbekannten Fremdsprache? Zuerst wird man vom Entsetzens über die Flut des Kauderwelschs erfasst, dann tauchen nach und nach einzelne Wortformen aus der unverständlichen Kakophonie auf, die das Gehirn als vertraut entschlüsselt.
Stufe 1: OMG! Was sagen die da?!
Stufe 2: „Wir…!“ „Gehst du…?“ – Aber wohin, wann, warum?
Der Kontext der Situation hilft Ihnen, etwas zu verstehen: Wenn Sie in einem Hotel angekommen sind und ein Zimmer reservieren, ist es unwahrscheinlich, dass im Gespräch Vokabular aus dem Themenbereich Beim Arzt oder Beim Essen auftauchen. Es ist nützlich, auf die Mimik und Gestik des Sprechers zu achten (es sei denn, es handelt sich um den Grenzbeamten am Flughafen, bei dem man keine Emotionen erwarten sollte oder es müssen wegen der Covidpandemie immer noch Masken getragen werden), ebenso wie auf die Intonation und die Pausen, die den Anfang und das Ende eines Satzes markieren. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich das Erlernen der russischen Sprache nicht vom Erlernen einer anderen Fremdsprache.
Es gibt jedoch ein „Aber“ – die Sprechgeschwindigkeit. Unabhängig davon, wie viel linguistische Forschung darüber betrieben wurde, wie viele Informationen verschiedene Sprachen in einer Sekunde übermitteln, sind wir uns einig: Russen sprechen recht schnell und außerdem sehr unartikuliert. Oft hindert diese inaktive Artikulation der russischen Sprecher Ausländer daran, selbst einfache Sätze zu verstehen. Sehen wir der Realität ins Auge: Russen können sich problemlos unterhalten, fast ohne den Mund zu öffnen (mit entspanntem Kehlkopf und kaum bewegten Lippen) und verstehen sich trotzdem perfekt.
Hier kann man nur Eines empfehlen: Wenn Sie gerade Ihre ersten Schritte in der russischen Sprache machen, quälen Sie sich nicht und hören Sie sich Lern-Audios an. Dann suchen Sie sich thematisch für Sie interessante Sendungen und Shows auf russischsprachigen Youtube-Kanälen aus, bei denen die Moderatoren und Gäste auf eine deutliche Aussprache achten. Und noch besser ist es, wenn es Untertitel gibt (die heutzutage auch schon automatisch generiert werden).
Ein interessantes Feedback der Studenten: Die Sprache der älteren Generation scheint für sie verständlicher zu sein als die ihrer Altersgenossen! Wenn man russische Freunde gefunden hat, sollte man vielleicht auch deren Eltern kennen lernen.
Im letzten praktischen Teil werden wir Beispiele für häufige russische Wörter geben, die anders ausgesprochen werden als es die literarische Norm vorschreibt (und manchmal sogar anders geschrieben werden, wenn es sich um eine informelle Kommunikation handelt):
— Ты где? Когда придешь? (Ty gdje? Kagdá pridjósch? Wo bist du? Wann kommst du?)
— Ща иду. (Stschá idú. Ich werde gleich da sein.)
— Сколько за такси? (Skól'ka sa taksí? Was kostet die Taxifahrt?)
— Тыща рублей. (Týstscha rubljéj.Tausend Rubel.)
— Скока-скока?! (Skóka- skóka? Wie viel?????)
— Сёдня деньги отдам. (Sjodn'a djéngi atdám.Ich geb’ das Geld heute zurück.)
— Тока не ври! Знаю тебя. (Tóka nje wri! Snáju tebjá.Ohne Spinne! Ich kenn’ dich.)
— Чё?! Я серьёзно!Tschó?! (Ja serjósna!He?! Das mein’ ich ernst!)
Die Kenntnis der umgangssprachlichen Aussprache erleichtert das Verstehen nach dem Gehör im Alltag erheblich. Wenn Russisch jedoch (noch) nicht nahezu Ihre Muttersprache ist, sollten Sie sich selbst aber besser an die literarische Norm halten.
Es ist schwierig, russische Sprecher nach dem Gehör zu verstehen – diese Fähigkeit entwickeln Sie durch sehr viel Übung. Die gute Nachricht für Sie: Es gibt auf dem riesigen Territorium Russlands kaum ausgeprägte Dialekte (im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern). Wenn Sie also eine Reise entlang der fast 10.000 km langen Transsibirischen Eisenbahn planen, werden Sie keine wesentlichen sprachlichen Unterschiede zwischen Moskau, Jekaterinburg, Perm, Krasnojarsk, Ulan-Ude oder Wladiwostok feststellen.
Natalia Kikilo - Assistentin am Lehrstuhl für russische Sprache Nr. 2 des Instituts für russische Sprache der Russischen Universität der Völkerfreundschaft.
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