„Er war ein schlechter Schütze“: Kennedy-Attentäter Oswald in der Sowjetunion

Geschichte
OLEG JEGOROW
Am 20. September 1959 reiste Lee Harvey Oswald, bekannt als mutmaßlicher Mörder von US-Präsident John F. Kennedy, in die Sowjetunion. Der selbsterklärte Kommunist war jedoch schnell enttäuscht von der harten, sowjetischen Realität und ging zurück in die Heimat. Seine Freunde und Kollegen aus der UdSSR bezweifeln bis heute, dass er für den Mord an Kennedy verantwortlich sein könne.

Als die sowjetischen Behörden ihm die Verlängerung des Visums, mit dem er Anfang Oktober 1959 aus Finnland eingereist war, verweigerten, schlitzte sich der junge Lee Harvey Oswald im Badezimmer eines Hotels die Pulsadern auf. Die Idee, in die USA zurückkehren zu müssen, gefiel dem 19-jährigen Ex-Marinesoldaten überhaupt nicht.

Ein paar Tage zuvor war Oswald nach einer langen Reise in Moskau angekommen. Am 20. September reiste er – unter dem Vorwand in Europa studieren zu wollen – von New Orleans ins französische Le Havre. Von dort aus floh er nach Helsinki, wo er sich für ein sowjetisches Visum bewarb. All dies war Teil seines Plans – der junge Marxist träumte davon, in einem sozialistischen Staat zu leben.

Ein ungewollter Gast

Den Sowjets war Oswald jedoch ein Dorn im Auge. Nach Chruschtschows Besuch in den Vereinigten Staaten im September 1959 war die Idee eines amerikanischen Überläufers, insbesondere, wenn er so wie Oswald auch noch relativ nutzlos war, nicht mehr attraktiv für die UdSSR. Nach seinem Suizidversuch im Hotel entschieden die Behörden allerdings, dass ein toter Amerikaner noch schlechter sei, und ließen Oswald widerwillig bleiben.

Der nun wieder glückliche Oswald gab öffentlich seine amerikanische Staatsbürgerschaft ab – tatsächlich tat er dies im offiziellen Sinne nie – und bat darum, an einer Moskauer Universität studieren zu dürfen. Stattdessen schickten ihn die sowjetischen Behörden jedoch ins heute belarussische Minsk, um dort in einer Fabrik für Fernseher und Radios zu arbeiten. Oswald schrieb in sein Tagebuch, er hätte die Beamten gefragt, ob Minsk in Sibirien sei. Sie hätten daraufhin nur gelacht.

Kein großartiger Arbeiter

Als Ausländer bekam Oswald in der Fabrik jemanden zur Seite gestellt, der ihm mit der russischen Sprache helfen sollte. Stanislaw Schuschkewitsch war einer der wenigen englischsprachigen Kollegen in Oswalds Arbeitskolonne. In den 1990er-Jahren wurde Schuschkewitsch als erster Präsident des unabhängigen belarussischen Staates bekannt.

In einem Interview behauptete Schuschkewitsch, der spätere Attentäter von Dallas sei sehr ordentlich gewesen. Gleichzeitig sei er jedoch ein schlechter und träger Arbeiter gewesen. Schuschkewitsch bezweifelte, dass sein ehemaliger Kollege wirklich der Mörder Kennedys gewesen sein könne.

Es bleiben Zweifel

Die belarussische Journalistin Larisa Sajenko zitiert einen anderen Kollegen Oswalds, Pavel Golowatschew. Auch Golowatschew glaubt nicht, dass Oswald zu einer solchen Tat fähig gewesen sei. Er sei ein schlechter Schütze gewesen und scheiterte bei einem Schießwettbewerb in der Fabrik.

Wie aussagekräftig diese Aussagen sind, ist freilich nicht zu belegen. Der Journalist Alexander Lukaschuk, Autor eines Buches über Oswalds Leben ins Minsk, stimmt dem amerikanischen Oswald-Biographen Norman Mailer zu: Es sei Oswald gewesen, der Kennedy tötete, und er habe alleine gehandelt. Dennoch gibt es nach wie vor Spekulationen über Kennedys Tod und Oswalds Beteiligung.

Luxus und Langeweile in Minsk

Oswalds Leben in Minsk kann als luxuriös bezeichnet werden – sofern Luxus in der sozialistischen Sowjetunion möglich war. Sein Monatslohn betrug 700 Rubel, nach heutigen Maßstäben 2 300 Euro, zusätzlich erhielt er noch einmal 700 Rubel vom Roten Kreuz, insgesamt also 1 400 Rubel, immerhin rund 4 600 Euro. Wenn man bedenkt, dass ein gewöhnlicher Arbeiter in der Fabrik nur 70 Rubel, heute rund 230 Euro, pro Monat verdiente, ist dies ein stattliches Gehalt.

„Ich weiß nicht einmal, wie ich das Geld ausgeben soll“, beschwerte sich der junge Amerikaner in seinem Tagebuch. Solche Sorgen hätte wohl jeder Sowjetbürger gerne gehabt.

Schließlich wurde Oswald jedoch langweilig in Minsk, es gab keine Nachtclubs, kein Bowling und keine Orte zum Entspannen, lediglich ab und an eine Tanzveranstaltung der Gewerkschaft. Dieser Lebensstil, die allgegenwärtige politische Propaganda und die vorsichtig geäußerten Zweifel seiner Freunde an der kommunistischen Ideologie enttäuschten Oswald.

Heimweh

Obwohl er in Minsk seine große Liebe Marina Prusakowa fand, ergriff Oswald immer stärkeres Heimweh. Die Beiden heirateten, bekamen ein Kind und zogen gemeinsam zurück nach Amerika. Als Ehefrau Oswalds bekam Marina die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Im Sommer 1962 zog die junge Familie nach Dallas, wo am 22. November 1963 der 35. Präsident der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, erschossen wurde. Der Hauptverdächtige war Oswald, der nur zwei Tage später selbst durch Kugeln den Tod fand. Oswalds Freunde in der Sowjetunion waren geschockt.

>>> Wie reagierten die Russen auf die Ermordung von John F. Kennedy?

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