Eingriff in die Natur: Warum ist die Stadt Mologa unter Wasser verschwunden?

Legion Media
Die Bestrebungen der Bolschewiki, ein neues Land zu erschaffen, bedeuteten oft, dass das alte Russland verschwinden musste. Manchmal wurden die Überbleibsel buchstäblich weggespült. Doch von Zeit zu Zeit tauchen die Zeichen der alten Zeit wieder auf.

An jedem zweiten Samstag im August verlässt eine Fähre den Anleger am Stausee der russischen Stadt Rybinsk. In der Mitte des Sees angekommen, werfen die Passagiere der Fähre Kränze aufs Wasser. Mit diesem Ritual wird der Stadt Mologa gedacht, die beim Bau des Rybinsker Stausees in den 1930er Jahren komplett geflutet wurde. Noch immer halten diejenigen, die „vor der Flut” geboren wurden, die Erinnerung an die Stadt aufrecht.

Meere wurden verbunden, Familien zerstört

Der Bau des Stausees von Rybinsk wurde mit der Notwendigkeit begründet, einen Verbindungsweg zwischen der Baltischen See und dem Kaspischen Meer zu schaffen. Es war natürlich schon vorher möglich, auf dem Wasserweg von Leningrad (dem heutigen Sankt Petersburg) nach Astrachan zu fahren, doch durften die Schiffe nur wenig Tiefgang haben. Im Jahr 1935 genehmigte das Komitee für Wirtschaftsplanung der Sowjetunion den Bau des damals größten von Menschen erschaffenen Stausees.

Die Stadt Mologa in der Nacht

Im April 1941 wurden die Flüsse Wolga und Scheksna gestaut. Auf diese Weise wurden 5 000 Quadratkilometer Fläche überschwemmt. 663 Dörfer und die Stadt Mologa sowie Teile von sechs weiteren Städten wurden geflutet. Rund 130 000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Eine Menge landwirtschaftlicher Nutzfläche und Wälder wurden zerstört. Beim Bau des Staudammes wurden überwiegend Insassen des Straflagers Wolschski eingesetzt, in das auch diejenigen kamen, die nicht umziehen wollten.

Die Stadt Mologa, ursprünglich Teil des Fürstentums Rostow, existierte bereits seit dem 12. Jahrhundert. Moskau annektierte die Stadt im 14. Jahrhundert. Aus Mologa kamen einige Jahrhunderte später die Frischfischlieferungen für den Zarenhof. 1777 wurde Mologa der Status eines Verwaltungszentrums verliehen. Es gab in der Stadt ein Kloster und mehrere Kirchen. Ende der 1930er Jahre zählte die Stadt etwa 7 000 Einwohner.

Der Bau des Staudammes sorgte bei den Bewohnern des Flutungsgebiets für viel Leid. Im Zweiten Weltkrieg half die Talsperre aber auch, Leben zu retten, da durch sie Transporte erleichtert wurden. Als die Nazis immer weiter auf russischem Gebiet vorrückten und viele Eisenbahnstrecken und Straßen blockierten, war der Weg über die Wolga oft der schnellste, um Güter aus dem Ural und den Gebieten an der unteren Wolga in das Landesinnere zu transportieren.

Der Rybinsk-Stausee ermöglichte es auch schwereren Schiffen den Fluss weiter hinaufzufahren. Zudem konnten über den Wasserweg leichter Menschen aus den besetzten Gebieten evakuiert werden. Ein weiterer Vorteil war das Rybinsker Wasserkraftwerk, das während der Belagerung Moskaus durch die Nazis oft die einzige Energiequelle der Stadt war.

Für einen sehr langen Zeitraum war die Flutung Mologas Verschlusssache und es war durchaus gefährlich, über die untergegangene Stadt zu sprechen. Darüber traurig zu sein konnte als Missbilligung der Sowjetregierung und ihrer Pläne ausgelegt werden. Erst in den 1980er Jahren wurden in der Presse Gerüchte über das wahre Schicksal Mologas gestreut. Seitdem versammeln sich die ehemaligen Stadtbewohner regelmäßig. Manchmal, wie zum Beispiel in den Jahren 1992/1993, fällt der Pegel aufgrund natürlicher Ursachen so tief, dass die Stadt wieder auftaucht. Wenn das passiert, können die früheren Einwohner Mologas noch einmal einen Fuß auf den Boden ihrer Geburtsstadt setzen und durch die vertrauten Straßen spazieren, auf den Grundmauern ihrer Häuser sitzen oder die Gräber der Vorfahren besuchen. Wo einst die Himmelfahrtkirche stand, findet sich heute eine handgefertigte Gedenktafel auf der steht: Vergib uns, Mologa.

Feuerwachturm in Mologa, der von Andrej Dostojewski, dem Bruder des Schriftstellers Fjodor Dostojewski, entworfen wurde.

„Jetzt, wo wir älter werden, denken wir mehr und mehr über unsere Jugend nach”, sagt Nikolai Nowotelnow, der in Mologa geboren wurde. „Es ist traurig, dass wir immer weniger werden und dass die Erinnerung an Mologa mit uns stirbt.” Jedes Wiederauftauchen schadet den Überresten der Stadt. Im Frühjahr treiben Eisschollen über den Grund und tragen immer mehr die letzten Zeichen der Stadt ab.

Glockenturm als Leuchtturm

Mologa war nicht die einzige Stadt, die beim Bau des Staudammes geflutet wurde. Das gleiche Schicksal teilten viele weitere Dörfer und Städte.  

„Wir dürfen nicht darauf warten, dass die Natur uns Geschenke macht. Wir müssen uns die Natur erobern”, sagte der sowjetische Agrarwissenschaftler Iwan Mitschurin, der den Umgang der Sowjets mit der Natur mit diesen Worten treffend beschrieb. Später, in den 1960er Jahren, gab es sogar eine, wenngleich nicht erfolgreiche, Initiative, sibirische Flüsse umzuleiten, um die südlichen Regionen der UdSSR zu bewässern.

In den 1930ern, waren die Sowjets unter Druck, die nationale Energieversorgung auszubauen, um das industrielle Wachstum vorantreiben zu können. So wurden viele Orte geflutet, um ambitionierte Wasserkraftprojekte umzusetzen. Wesjegonsk und Korschewa nahe des Rybinsk-Stausees oder Bolgar am Kuibyschew-Stausee in der Gegend von Kasan: dies sind nur einige der Städte, die ganz oder teilweise unter Wasser verschwunden sind. Das berühmteste Symbol für ein russisches „Atlantis” ist der teilweise versunkene Glockenturm von Kaljasin.

Kaljasin wurde etwa im 12. Jahrhundert gegründet und war eine florierende Handels- und Handwerksstadt an der Wolga. Während des Baus des Wasserkraftwerks von Uglitsch und des Uglitsch-Stausees wurden das historische Stadtzentrum und alle historischen Bauwerke überschwemmt. Die alten Straßen enden nun abrupt am Ufer des Sees. Übriggeblieben ist allein der beeindruckende Glockenturm der zerstörten Nikolski-Kathedrale.

Der Turm scheint aus dem Wasser zu ragen, doch tatsächlich steht er auf einer kleinen Insel und dient als Leuchtturm, der an dieser Stelle sehr wichtig ist, da die Wolga hier eine scharfe Kurve macht. In den 1980er Jahren wurden die Grundmauern des Turms verstärkt, 2016 bekam der Turm neue Glocken. Inzwischen ist der Glockenturm ein inoffizielles Wahrzeichen von Kaljasin und eine beliebte Touristenattraktion. Zu erreichen ist er mit dem Boot.

Die Stadt Kaljasin vor der Überschwemmung

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