Fabrikevakuierung während des Zweiten Weltkrieges: Wie die „zweite Industrialisierung“ ablief

Eine Arbeiterin im Lichatschew-Werk in Moskau, 1941.

Eine Arbeiterin im Lichatschew-Werk in Moskau, 1941.

TASS
Im Herbst und Winter des Jahres 1941 wurden Tausende von Unternehmen und Millionen von Menschen in den Osten des Landes umgesiedelt. Es handelte sich um einen einzigartigen logistischen Vorgang, der in diesem Ausmaß noch nie zuvor stattgefunden hatte.

Die schnelle Offensive der deutschen Truppen im Sommer und Herbst des Jahres 1941 zwang die UdSSR, alles zu tun, um zumindest einen Teil des industriellen Potenzials des Landes zu retten. Allein in den ersten vier Monaten des Krieges wurden 18 Millionen Menschen und 2 500 Fabriken in den Osten evakuiert.

Es wird berichtet, dass Stalin auf einem Empfang zu Ehren des Tages des Sieges an einige Armeekommandeure herangetreten sei und sie gefragt habe, weshalb die Sowjetunion diesen schrecklichen Krieg gewonnen habe. Sie begannen, über den Mut der Menschen und die Leistung des Sowjetvolkes zu sprechen. Daraufhin rief Stalin einen der Minister zu sich und sagte, während er auf ihn zeigte, dass Heldentum und militärisches Genie ohne Eisen, Stahl, Panzer und Flugzeuge wenig wert seien. All das hätte die UdSSR nicht gehabt, wenn es nicht möglich gewesen wäre, nach der Evakuierung Tausende dieser Unternehmen im Osten anzusiedeln.

Nach Kriegsbeginn gingen Millionen von Spezialisten in den Osten: Schätzungen zufolge waren es 30 bis 40 Prozent der erforderlichen Arbeitskräfte.

Ferner wurden Theater evakuiert. Nach Samara, damals Kuibyschew, wurde beispielsweise das Bolschoi-Theater umgesiedelt, woandershin Universitäten und Forschungszentren. Mindestens 30 Unis und mehrere große Forschungsinstitute wurden allein in die Region Nowosibirsk verbracht. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Nowosibirsk nach dem Krieg zu einem der wissenschaftlichen Zentren des Landes wurde.

Acht Tausend Waggons  

Die dringlichste Aufgabe bestand jedoch darin, die Industrie zu retten. Zu diesem Zweck wurde in den ersten Tagen des Krieges ein Evakuierungsrat einberufen. Für den Erfolg der Evakuierungsoperation war in erheblichem Maße der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Volkskommissare und spätere sowjetische Reformer und Ministerpräsident Alexej Kossygin verantwortlich. Auf seine Initiative hin wurde ein Netzwerk von Evakuierungspunkten entlang der gesamten Eisenbahnstrecken geschaffen, an denen sich die Menschen mit Lebensmitteln eindecken und medizinische Hilfe erhalten konnten.

Die Evakuierung fand zur Zeit einer starken deutschen Offensive statt. Es war notwendig, Proviant an die Front hin und die Verwundeten abzutransportieren. Oft wurden die vorgeschickten Züge auf dem Rückweg für Evakuierungsaufgaben eingesetzt.

Uralmaschsawod in Swerdlowsk (bei Jekaterinburg), 1944.

Nikolai Patolitschew, der im Jahr 1942 für die Region Tscheljabinsk zuständig war, erinnert sich daran, wie diese Transporte abliefen: „Es kam vor, dass Menschen in offenen Gondelwagen oder auf den Plattformen fuhren. Es war schon ein Fortschritt, wenn es eine Plane gab, unter der man sich vor dem Regen verstecken konnte. Manchmal gab es jedoch noch nicht einmal sie. Dort befanden sich auch Maschinen oder Materialien, einige der evakuierten Dinge eben. [...] Bei günstigeren Bedingungen wurden zwei bis drei Planwagen für Frauen mit Kindern bereitgestellt. Anstelle von 36 Leuten wurden dort jedoch 80 bis 100 [...] hineingepfercht.“

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8 000 Waggons

Auch große Unternehmen wurden umgesiedelt, wie das Stahlwerk „Saporoschstal“, das größte metallurgische Unternehmen in Europa mit Tausenden von Arbeitern. Um es und die Rohstoffe woanders hinzuschaffen, brauchte es insgesamt 8 000 Waggons. Die Demontage und das Laden der Ausrüstung erfolgten dabei unter ständigem Beschuss der deutschen Artillerie und Luftwaffe. Daher waren die Züge nur nachts unterwegs.

Nicht weniger schwer war das Entladen, Montieren und Ingangbringen von Unternehmen dort, wohin sie befördert wurden. Da die Produktion so schnell wie möglich aufgenommen werden musste, begannen sie häufig mit dem Bau provisorischer Holzrümpfe. Fabriken nahmen die Arbeit manchmal praktisch auf offenem Feld auf, nur Strom wurde ihnen zugeführt. Nach Angaben des britischen Historikers und Journalisten Alexander Vert konnte man am Stadtrand von Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg, einem großen Industriezentrum im Ural, Kiefern sehen, an denen elektrische Lampen hingen und Werkzeugmaschinen arbeiteten. Es handelte sich um die aus Kiew evakuierte Fabrik „Bolschewik“.

„Sie haben unser Land im Stich gelassen“

Das damalige starre Managementsystem der UdSSR trug zum Erfolg der Evakuierung bei. Bekannt ist vor allem das Dezember-Telegramm von Stalin an den Direktor des 18. Flugzeugwerks in Kuibyschew, das von Oktober bis November aus Woronesch evakuiert wurde. „Sie haben unser Land und unsere Rote Armee im Stich gelassen. [...] Wenn die 18. Fabrik darüber nachdenkt, das Land  wie eine lästige Fliege abzuschütteln, indem sie pro Tag nur ein IL-2-Angriffsflugzeug herstellt, irrt sie sich gewaltig und wird dafür bestraft. Ich bitte Sie, die Regierung nicht länger warten zu lassen und mehr IL-2-Maschinen zu produzieren. Ich warne Sie zum letzten Mal“, lautet der Text des Telegramms, der in einem Archiv gespeichert ist.

Historiker stellten indessen fest, dass es so schnell möglich war, die Unternehmen und Fabriken an neuen Orten anzusiedeln und die Wirtschaft in Kriegsbereitschaft zu versetzen, weil schon vorher für einige Unternehmen eine Basis geschaffen wurde. Für eine Reihe von Fabriken im Ural und in Sibirien beispielsweise war das Fundament bereits gegossen und der Strom angeschlossen worden. Sie sollten wegen der drohenden Kriegsgefahr in Europa in den 1930er Jahren in den Osten verlegt werden. Vor dem Krieg fand man allerdings keine Zeit für die Umsetzung dieser Pläne.

Als Ergebnis der Evakuierung wurden im Osten des Landes Großunternehmen gegründet, die zu Riesen der sowjetischen Industrie wurden. Innerhalb weniger Monate wurde ein weiteres Zentrum geschaffen, das bis heute das Rückgrat der Wirtschaft des Landes geblieben ist. Der amerikanische Regisseur Oliver Stone nannte diesen Prozess in einem seiner Dokumentarfilme die „zweite Industrialisierung“ nach den dreißiger Jahren.

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