„Als unser Haus 1913 gebaut wurde, war es eines der ersten Gebäude in Moskau mit einem Flachdach. Über die Jahre gab es auf dem Dach ein beliebtes Restaurant, eine Diskothek und ein Kino“, sagt (rus) Gennadi, einer der Bewohner des Nirnsee-Hauses. „Im Zweiten Weltkrieg stellte man Flakgeschütze auf dem Dach auf und bewachte von dort aus den Luftraum und die Umgebung.“
Das Dach des Nirnsee-Hauses ist vermutlich der meistbeachtete Teil des Gebäudes. Doch berühmt ist das Haus in der Moskauer Innenstadt aus einem anderen Grund: Es gilt als der „erste Wolkenkratzer Russlands“. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit.
Die Anfänge des Hochhausbaus
Das erste Hochhaus in Moskau war das achtstöckige Afremow-Haus (Sadowaja-Spasskaja, 19/1), welches bereits 1905 fertiggestellt wurde. Die Moskauer waren zunächst wenig begeistert von dem Gebäude. Aus Angst, es könne zusammenbrechen, vermieden viele, daran vorbeizugehen. Als man sich dann an das neue Haus gewöhnt hatte, bekam es den Spitznamen „Tutscheres“, übersetzt heißt das in etwa „Wolkenzerschneider“.
Doch der deutschrussische Architekt Ernst Nirnsee hatte noch ambitioniertere Pläne. Er wollte ein vierzig Meter hohes Gebäude mit neun Etagen und einem zugänglichen Dach. Für die damalige Zeit ausgesprochen ehrgeizig. Natürlich sollte ein solches Gebäude auch an einem angemessenen Platz stehen. Um dies zu gewährleisten, kaufte Nirnsee ein Stück Land mitten im Moskauer Stadtzentrum, genauer gesagt an der Bolschoi-Gnesdnikowski-Gasse 10, ganz in der Nähe der berühmten Twerksaja-Straße. Die Stadtverwaltung hatte Zweifel an der Sicherheit des Gebäudes und bat Nirnsee, das Haus eine Etage niedriger zu bauen. Dieser blieb aber stur und verteidigte sein Projekt. So konnte er mehr Wohnungen verkaufen.
Ursprünglich sollten in dem Haus vor allem Junggesellen und kleine Familien wohnen. Die Wohnungen waren mit 27 bis 48 Quadratmetern entsprechend klein. Auf jeder Etage gab es einen Korridor, entlang dem die Wohnungen zellenartig angeordnet waren. Ein ähnliches Konzept wurde später auch in anderen großen Wohneinheiten angewandt. Küchen gab es nicht. Nirnsee glaubte, dass insbesondere Junggesellen eher in ein Restaurant gehen würden. Zudem gab es auf jeder Etage einen Butler, der bei Bedarf Essen bestellen konnte. Eine weitere Besonderheit waren die Staubsauger: Diese waren fest installiert und saugten den Staub direkt in eine Kammer in der Wand. So brauchten die Bewohner keine eigenen Sauger zu kaufen. Die größte Neuigkeit war aber das Flachdach.
Es galt als erstes Flachdach in Moskau und der Blick von dort oben war atemberaubend. Nirnsee selbst sagte 1913: „Ich bekomme immer noch nicht genug von diesem Ausblick. Selbst meine Arbeiter kommen an ihren freien Tagen hier hoch und genießen stundenlang die Sicht auf Moskau.“
Doch das Dach diente nicht nur dem schönen Ausblick, sondern war auch Ort für Gemeinschaftsaktivitäten. So gab es zum Beispiel eine Kantine für die Mieter, einen Aussichtspunkt, ein Kino und sogar eine Schlittschuhbahn. In Zeitungen wurde das Gebäude aufgrund seiner revolutionären Höhe als „Ort mit Bergluft” angepriesen.
„Ich fühlte mich auf dem Dach immer wie zu Hause. Es gab Blumenkübel, Schaukeln für die Kinder und Möglichkeiten, seine Teppiche auszuschütteln. Selbst eine Brücke zwischen den beiden Teilen des Daches gab es. Wir fuhren manchmal Fahrrad hier oben oder spielten Fußball zwischen den Belüftungsschächten. Wenn der Ball nach unten fiel, liefen wir kilometerweit, um ihn wiederzufinden. Bälle waren damals rar”, erinnert sich Gennadi.
„Tschedomos”
Während der russischen Revolution gehörte das Haus der Weißen Armee, die von dort aus auf die Bolschewiki schoss. Nach deren Sieg fiel das Gebäude an die Mossowjet - die neue Stadtregierung. Diese machte ein Sozialwohnhaus draus. Man gab damals dem Gebäude den Spitznamen „Tschedomos“ („Tschetwerty Dom Mossowjeta“, deutsch: „Viertes Haus des Mossowjet“.) Die kleinen Wohnungen waren perfekt geeignet für die Armen der frühen Sowjetzeit.
Neben Wohnungen fanden sich in dem Haus auch das Moskauer Satiretheater, ein Künstlerrestaurant namens „Die Fledermaus“ und die Redaktionen einiger Magazine und Zeitungen. Dadurch gingen hier auch viele Literaten ein und aus.
Der Poet Konstantin Kedrow lebt ebenfalls im Nirnsee-Haus und berichtet (rus) stolz von seinen berühmten Berufskollegen: „Der Avantgarde-Dichter Dawid Burljuk lebte im dritten Stock. Viele bekannte Poeten besuchten ihn dort. Wladimir Majakowski kam oft in den achten Stock, wo seine Verlobte Sonja Schamardina lebte. In den 1980er-Jahren fanden Handwerker dort sogar einen Zettel mit Versen, auf denen Majakowskis Name steht. Scheinbar hatte Sonja sie für ihn geschrieben. Er sah sie jedoch nie.“ Angeblich verließ Sonja Majakowski, nachdem ihn sein Freund Tschukowski öffentlich als Frauenheld bezeichnet hatte.
Ein anderer berühmter Schriftsteller traf hier dagegen auf seine große Liebe. Die Rede ist von Michail Bulgakow und Jelena Schilowskaja.
„1929 luden mich einige Freunde für Bliny zu sich ein. Ich wollte anfangs nicht, aber als sie mir sagten, dass Bulgakow da war, kam ich doch. Am Ende saßen wir nebeneinander. Ich hatte ein Oberteil mit Schleifen am Ärmel an, die irgendwann aufgingen. Also bat ich Bulgakow, sie wieder zu binden. Er sagte später Mal: ‚Dort haben wir uns für den Rest unseres Lebens zusammengebunden‘. Ich glaube, das war ewige Liebe auf den ersten Blick“, sagte Schilowskaja einmal. Bulgakow selbst stimmte dem zu: „Ja, wir waren sofort ineinander verliebt. Obwohl wir uns nicht kannten, sprachen wir miteinander als würden wir uns seit Jahren täglich sehen. Und bald darauf wurde sie meine heimliche Ehefrau.”
Jelena Schilowskaja war auch die Inspiration für den Charakter der Margarita in Bulgakows klassischem Roman „Der Meister und Margarita.“ – Diesen haben wir somit auch dem Nirnsee-Hochhaus zu verdanken.