Dunkles Kapitel: Wie die Sowjetbürger Neujahr im Zweiten Weltkrieg feierten

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Es war das dunkelste Kapitel der sowjetischen Geschichte. Doch selbst auf dem Höhepunkt des Krieges gegen die Nazis versuchte das russische Volk, an seinen Neujahrstraditionen festzuhalten. In diesen Tagebuchauszügen erzählen die Verfasser von dieser Zeit.

Elena Smolina, geboren 1929, berichtet (rus) von einem sehr bescheidenen Neujahrsfest im Jahr 1942 in Wologda: „Wir haben in der Schule einen Tannenbaum geschmückt und sind um ihn herumgetanzt. Es gab kein Väterchen Frost, kein wirklich fröhliches Lachen, keinen Spaß.

1943 und 1944 war es ähnlich. Es gab Weizenfladenbrot, das auf einem Petroleumofen gebacken wurde und Eintopf aus der Dose. Das erste ‚richtige‘ Neujahr wurde erst wieder 1946 gefeiert. Mutters Bruder, Onkel Serjoscha, kam zu Besuch. Er hatte als einziger von vier Brüdern den Krieg überlebt. Es gab Geschenke, Leckereien und sehr viel Wiedersehensfreude. Gegessen haben wir Kartoffeln mit Hering, Sauerkraut und Gurken. Um zwölf Uhr hörten wir im Radio die Neujahrsansprache und gingen dann zu Bett. Der 1. Januar war ein Arbeitstag.“  

Neujahr an der Front 

Neujahr während der Belagerung von Leningrad war sehr speziell. Die Stadt war eingekesselt von deutschen Soldaten. Rimma Wlasowa erinnert sich (rus) an dieses Fest im Jahr 1941: „Irgendjemand hatte einen Tannenbaum geschmückt und lud die Kinder ein. Wir waren schwach, ausgemergelt und haben uns kaum bewegen können. Es kam wenig festliche Stimmung auf. Wir Kinder waren schwer  aufzumuntern in dieser Stadt, die von Bombenangriffen, Kälte und Hunger gezeichnet war. Doch irgendwie empfanden wir dennoch ein bisschen Freude und waren überrascht, dass ein solches Fest unter so entsetzlichen Bedingungen überhaupt stattfinden konnte. Am meisten waren wir jedoch überrascht, dass es Geschenke gab: einen Laib Brot und ein kleines Stück Pferdewurst. Das war ein Wunder, denn wir hatten zuletzt außer Wasser und Brot nichts mehr gegessen. Die Freude und das Erstaunen hoben unsere Stimmung. Und dann gab es auch noch für jeden ein Glas mit süßem Gelee – ein wahrer Schatz zu jener Zeit.“ 

Auf dem Schlachtfeld war es schwieriger. Wo sollte man dort einen Platz zum Feiern finden? Leonid Weger, ein sowjetischer Geheimdienstoffizier, erinnert sich an die Nacht des 31. Dezember 1942 in der Nähe von Stalingrad: „Es gab kein Abendessen. In der Kälte sitzend, in feuchter Kleidung, wurde es sehr unangenehm. Dabei war es doch Silvester, ein düsteres Silvester. 

Als ich etwas wacher war, nahm ich mein Gewehr und wanderte umher. Ich entdeckte in einer nahegelegenen Schlucht einige Pferde. Eines hatte ein paar Maiskolben in seinem Futterbeutel. Ich nahm mir einen und kaute darauf. Einen anderen steckte ich mir in die Tasche und ging zurück. Inzwischen hatte jemand ein Feuer angezündet. Es wurde warm, ich kaute auf meinen Maiskörnern herum und bevor ich irgendwann einschlief, fiel mir wieder ein, dass es Silvester war und dass ich es gar nicht mehr so schlimm fand.“  

Verbrannter Weizen als Festmahl 

Einige feierten mitten im Kampf. Michail Obraszow erinnerte sich (rus) daran, dass er am letzten Tag des Jahres 1942 an einer Gegenoffensive beteiligt war, um die Nazis zurückzudrängen. Und gleich danach wurde Neujahr gefeiert: „Nachdem die Wachposten ihre Position eingenommen hatten, versammelten wir uns im Unterstand. Der Major brachte etwas Warmes zu essen, amerikanisches Rindfleisch und Wodka. Wir haben getrunken, der Verstorbenen gedacht und dann gebetet für unsere Helden und für das neue Jahr. Einer unserer kräftigsten Männer, Kolja Semjonow aus der Wolga-Region, fragte, ob er singen dürfe, und stimmte ein traditionelles russisches Volkslied an. Er sang so hingebungsvoll, dass wir den Atem anhielten und ergriffen zuhörten. Jeder von uns stellte sich vor, der junge Held dieses Liedes zu sein.“

Für die in besetzten Städten lebenden Sowjetbürger stellte sich die Frage nach einer Feier nicht. Es ging ums blanke Überleben. „Unsere Familie hauste in einem Keller nahe der deutschen Front“, erinnert sich Konstantin Simin, der zu Kriegszeiten ein Kind war und in Stalingrad lebte. „Kurz vor Neujahr wurden wir von den Deutschen aus dem Keller verjagt und wir standen auf der Straße. Es war kalt und windstill, Schnee fiel. Meine ältere Schwester Klawa trug die dreijährige Galja, und ich, der Zwölfjährige, hatte unseren sechsjährigen Bruder Schenja an der Hand. Wir suchten Schutz. Wir fanden eine Lehmhütte, die irgendwie unversehrt geblieben war. Wir waren hungrig, aber wir hatten nichts. In der Nähe lebte ein älteres Ehepaar. Sie gaben uns etwas verbrannten Weizen, den wir uns kochten und aßen. Das war unser Neujahrsessen.“ 

1945, als die Rote Armee die Deutschen bereits nach Osteuropa zurückgedrängt hatten, feierte die Bevölkerung der ehemals besetzten Länder mit den sowjetischen Soldaten. Wladimir Mandrik, ein sowjetischer Partisan, schrieb über die Nachwirkungen einer Schlacht gegen die Nazis am 1. Januar 1945 in der Nähe von Rimavská Sobota, einer Stadt in der Südslowakei: „Nach dem Gefecht sahen wir eine kleine Gruppe Slowaken, ungefähr ein Dutzend, auf uns zukommen. Sie brachten kannenweise kubanischen Rum, der uns von einem Hoteldirektor aus dem Ort geschickt worden war. Arbeiter aus einem Stahlwerk lieferten uns 50 Kilo Wurst. Die Einheimischen feierten mit uns Neujahr. Sie wussten, dass wir unerbittlich gegen die Deutschen gekämpft hatten. Sie vertrauten uns. Wenn die Slowaken wussten, dass auch nur ein einziger Russe unter den Partisanen war, betrachteten sie es als ihre Pflicht, uns zu unterstützen.“ 

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