Elektrolokomotivenfabrik Nowotscherkassk (NEBF)
A. Chrupow/SputnikDie von der Regierung von Nikita Chruschtschow Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre durchgeführten Wirtschafts- und Währungsreformen waren eher fragwürdig. Während formal das Geld 10:1 getauscht wurde (aus zehn Rubeln wurde ein Rubel), blieben die Preise teils unverändert. Einige Produkte, insbesondere Fleisch und Milchprodukte, wurden sogar um das Zwei- bis Dreifache teurer. Das war ein schwerer Schlag für die ärmsten Menschen in der UdSSR, die Fabrikarbeiter.
Die Oblast Rostow, in der auch die Industriestadt Nowotscherkassk liegt, gehörte 1962 zu den ärmsten Regionen des Landes. Die Elektrolokomotivenfabrik Nowotscherkassk (NEBF) gehörte zu den am meisten unterfinanzierten Fabriken der Stadt. Die Arbeiter litten unter schlechten Arbeitsbedingungen. Unter den Mitarbeitern waren viele ehemalige Sträflinge, die bereit waren, zu niedrigen Löhnen zu arbeiten. Die Fabrik war ein Pulverfass. Die Situation eskalierte Anfang Juni 1962.
Am frühen Morgen des 1. Juni 1962 erfuhren die Mitarbeiter der NEBF von einem weiteren Preisanstieg für Milch- und Fleischprodukte. Zudem machte das Gerücht die Runde, dass die Leistungsstandards für sie erhöht worden wären, während die Löhne unverändert bleiben sollten. Daraufhin beschlossen die Arbeiter der Stahlwerkstatt zu streiken. Um 7:30 Uhr versammelten sie sich, um die Situation zu besprechen. Es war eine hitzige Diskussion. Der Historiker Wladimir Koslow schreibt in seinem Buch „Die unbekannte UdSSR“, dass die Arbeiter offen auf die sowjetische Regierung schimpften, auf die Partei und sogar auf Generalsekretär Chruschtschow selbst. Das war damals eine Straftat.
Andere Arbeiter schlossen sich den Schmieden an. Die Versammlung verlagerte sich in den öffentlichen Park auf dem Fabrikgelände. Die Behörden forderten die Streikenden vergeblich auf, zur Arbeit zurückzukehren. Die Behörden wurden ignoriert und beschimpft. Bis 11 Uhr, der ersten Pause in der Fabrik, hatten sich bereits über 200 Arbeiter dem Streik angeschlossen.
Der 24-jährige Wjatscheslaw Tschernych, dessen junge Frau zu diesem Zeitpunkt mit dem ersten Kind schwanger war, sagte später beim Verhör: „Um Fleisch und Butter zu kaufen, mussten wir nach Rostow. Warum wurde [Nowotscherkassk] so schlecht versorgt? Ich habe eine Vermutung: Den Behörden sind die Bedürfnisse der Arbeiter egal …“ Am 1. Juni gingen Tschernych und 15 andere Arbeiter in den Kontrollraum der Fabrik und schalteten die Werksirene mit voller Lautstärke ein. Er und der Maler der Fabrikschilder, ein Mann namens Korotejew, haben ein Banner mit der Aufschrift „Fleisch, Milch, höhere Löhne!“ angefertigt und es an einer Stange im Hof der Fabrik aufgehängt. Mit diesem Aufruf hatte der Protest der Arbeiter an Macht gewonnen.
Ein seltenes Foto des Protests
ArchivfotoGegen Mittag hatten sich in der Nähe des Werks rund 5.000 Aufständische versammelt. Sie blockierten die Eisenbahnlinie nach Rostow und stoppten einen Personenzug. Jemand schrieb mit Kreide auf die Lokomotive: „Chruschtschow für Fleisch!“ Die Situation eskalierte schnell. „Fleisch, Milch, höhere Löhne“, skandierte die Menge. Die Arbeiter schwangen Protestreden und nutzten die Lokomotive als Podium.
Gegen 16 Uhr versammelten sich die Verantwortlichen der Stadt und der Region im Verwaltungsgebäude der Fabrik. Die Arbeiter stürmten das Gebäude. Sie nahmen das Porträt von Chruschtschow ab und trampelten darauf herum. 200 Polizisten der örtlichen Miliz rückten an, zogen sich jedoch angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Arbeiter wieder zurück. Um 20 Uhr tauchten Soldaten in drei gepanzerten Fahrzeugen vor der Fabrik auf. Sie waren ein Ablenkungsmanöver, damit die Offiziellen aus der Fabrik fliehen konnten. Die Soldaten verschwanden bald wieder. Die tobende Menge verharrte bis spät in die Nacht auf dem Platz vor der Fabrik und errichtete Barrikaden.
Anastas Mikojan
Wladimir Akimow/SputnikIn den frühen Morgenstunden des 2. Juni erreichten Panzer Nowotscherkassk. Dies erschreckte und erzürnte die Demonstranten zugleich. Einige von ihnen schlugen mit Hämmern auf die Panzer ein. In der Zwischenzeit traf eine Gruppe der höchsten Parteibeamten aus Moskau in der Stadt ein, darunter der erste stellvertretende Ministerpräsident Anastas Mikojan. Der Streik wurde zu einer Angelegenheit von nationaler Bedeutung. Es wurden jedoch Maßnahmen ergriffen, damit die Ereignisse außerhalb von Nowotscherkassk geheim blieben. Es wurde eine Nachrichtensperre verhängt, da Chruschtschow den Volkszorn der Sowjets fürchtete, wenn die Ereignisse in der südrussischen Stadt publik werden würden.
Am 2. Juni schlossen sich Arbeiter anderer Fabriken der Stadt dem Streik an, und gegen Mittag begab sich eine große Menge von Demonstranten zum Hauptverwaltungsgebäude der Stadt. Die Protestierenden trugen rote sowjetische Flaggen und das Porträt von Wladimir Lenin. Dies sollte symbolisieren, dass es sich um einen friedlichen Streik der Arbeiter handelte, die für ihre Rechte eintraten. Panzer blockierten die Straße, doch die Arbeiter setzten ihren Weg unbeirrt fort.
Verwaltungsgebäude in Nowotscherkassk
DBerdasov (CC BY-SA 4.0)Die Protestler drangen in das Verwaltungsgebäude ein, richteten Verwüstungen an und schlugen auf die anwesenden Stadt- und Parteirepräsentanten ein. Ihre Forderung lautete, Mikojan zu sehen, den zweiten Mann in der Sowjetregierung. Erschrocken von der Wut der Arbeiter waren er und andere Parteibosse aber zu diesem Zeitpunkt längst evakuiert worden. Plötzlich erschienen 50 Soldaten mit automatischen Gewehren vor der Menge. Diese drängte jedoch weiter vor und versuchte, die Soldaten anzugreifen.
Sieben Arbeiter der NEBF, die zur Hinrichtung verurteilt wurden: Wladimir Schuwajew, Sergei Sotnikow, Michail Kusnezow, Boris Mokroussow, Wladimir Tscherepanow, Andrei Korkatsch, Alexander Saizew.
ArchivfotoEs gibt verschiedene Berichte darüber, was als nächstes geschah. Aber die meisten Quellen besagen, dass die Soldaten zwei Salven zur Warnung abfeuerten und dann in die Menge schossen. Bis zu 15 Demonstranten wurden an Ort und Stelle getötet und eine unbekannte Anzahl verletzt. Panik brach aus. Die Protestler flohen. In der Stadt verbreiteten sich Gerüchte, Soldaten hätten während des Streiks unbewaffnete sowjetische Arbeiter erschossen. Nowotscherkassk verfiel in Schockstarre. Nach Angaben der Historikerin Tatjana Botscharowa wurden an diesem Tag 26 Menschen getötet und 87 verletzt. Unmittelbar nach der Schießerei kamen Feuerwehrautos. Sie reinigten die Straße vom Blut.
Die Leichen der getöteten Menschen wurden anonym begraben. Es gab nie ein offizielles Gedenken oder ein Bekenntnis der kommunistischen Behörden zu dieser schrecklichen Tat.
Die symbolische Bestattung der Opfer des Massakers von 1962 auf einem Friedhof in Nowotscherkassk, 1994
ArchivfotoAm 3. Juni war der Aufstand beendet. Nur einige einsame Demonstranten zogen noch durch die Straßen, während die Miliz und der KGB die Streikführer festnahmen. Zwischen dem 3. und 4. Juni wurden mehr als 240 Personen festgenommen.
Der unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehaltene Prozess fand erst im August 1962 in Nowotscherkassk statt. Die Strafen waren äußerst hart. Insgesamt 105 Männer, die am Aufstand beteiligt waren, wurden mit je zehn bis 15 Jahren Zwangsarbeit bestraft. Sieben wurden zu Tod durch Erschießen verurteilt.
Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, gedenkt der Opfer der Schießerei von 1962 in Nowotscherkassk
Michail Klementjew/TASSDie Ereignisse wurden erst Ende der 1980er Jahre öffentlich bekannt. Bis dahin waren die meisten Dokumente, Fotos und Audioaufnahmen im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Aufstandes vernichtet worden oder waren verschwunden.
Der „Stein auf Blut“, ein zeitgenössisches Denkmal für die Opfer des Massakers von 1962
gemeinfreiErst in den 1990er Jahren wurden die Grabstätten einiger Todesopfer bekannt. Die meisten Leichen wurden jedoch noch nicht gefunden. Die UdSSR hat alles getan, um die Erinnerung an eine der schlimmsten Taten in ihrer Geschichte zu verbergen und zu begraben.
Die Analyse der Überreste der Massakeropfer von 1962, 1994
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