„Wulitsch trat in ein anderes Zimmer und setzte sich an einen Tisch; wir folgten ihm. Er gab uns ein Zeichen, uns um ihn zu setzen. Schweigend gehorchten wir; in diesem Augenblick übte er eine geheimnisvolle Macht über uns aus. Ich sah ihm unverwandt in die Augen; aber er betrachtete mich ruhigen, unbeweglichen Blickes, und ein schwaches Lächeln zuckte um seine blassen Lippen. Allein trotz seiner Kaltblütigkeit glaubte ich den Stempel des Todes auf seinem blassen Gesicht zu lesen. Ich habe die Beobachtung gemacht – und viele alte Militärs haben dieselbe bestätigt –, dass auf dem Gesichte des Menschen, der nach einigen Stunden zu sterben bestimmt ist, ein seltsamer Ausdruck liegt, der ein geübtes Auge nicht leicht täuscht.“
„Sie werden jetzt sterben“, sagte ich zu ihm.
Er wandte sich rasch zu mir um, antwortete jedoch langsam und ruhig:
„Vielleicht ja, vielleicht auch nicht ...“
Und sich dann an den Major wendend, fragte er:
„Ist die Pistole geladen?“
Der Major erinnerte sich in seiner Verwirrung nicht recht.
Diese Passage aus dem Roman „Ein Held unserer Zeit“ des russischen Schriftstellers Michail Lermontow (Übersetzung aus dem Taschenbuch „Ein Held unserer Zeit“, Edition Holzinger, Berliner Ausgabe, 2016, 4. Auflage) beschreibt eine Wette zwischen zwei Offizieren der Zarenarmee, die herausfinden wollten, ob der Mensch sein Schicksal selbst bestimmen konnte oder ob es vorherbestimmt sei.
Weil ihnen Erfahrungswerte fehlten, spielten sie ein gefährliches „Spiel“, dass weithin als „Russisches Roulette“ bekannt ist. Darüber, wo es seinen Ursprung hat, ist wenig bekannt.
Zeitvertreib der Offiziere
Russisches Roulette ist eine beliebte Referenz für Schriftsteller und Produzenten. Es war Inspiration für viele Handlungsstränge.
Eine populäre Theorie besagt, dass ein amerikanischer Autor von Abenteuergeschichten, Georges Arthur Surdez, den Begriff Russisches Roulette geprägt hat, als er 1937 eine Kurzgeschichte mit diesem Titel im „Colliers Magazin“ veröffentlichte.
In dieser Geschichte erzählt ein französischer Soldat von russischen Offizieren, die überall Russisches Roulette spielten: An einem Tisch, im Café, bei Freunden. Sie hatten nach der bolschewistischen Revolution von 1917 nichts mehr zu verlieren.
Seltsamerweise erwähnt kein russischer Schriftsteller, der vor der bolschewistischen Revolution von 1917 tätig war, Russisches Roulette in seiner Fiktionsprosa oder seinen Biografien. Sogar die oben erwähnte Passage von Michail Lermontow beschreibt eine Situation, in der eine Waffe mit nur einem Schuss statt eines Trommelrevolvers verwendet wird. Es geht nur um die Frage, ob sie geladen ist oder nicht.
Die zur Zeit der Revolution am weitesten verbreitete Waffe im russischen Reich war die 7-Schuss-Pistole „Nagant“ M1895. Da in Surdez‘ Kurzgeschichte von einer 6-Schuss-Waffe die Rede ist, sehen viele in der Geschichte keinen realen Hintergrund. Der Autor hätte durchaus seiner Fantasie freien Lauf lassen können.
Viele andere Theorien behaupten von sich, den wahren Ursprung des tödlichen „Spiels“ zu kennen, doch belastbare Beweise fehlen. Einige glauben, dass Russisches Roulette eine Möglichkeit für die Polizei war, Druck auf gefangene Verdächtige auszuüben. Andere behaupten, dass das Russische Roulette in der zaristischen Armee als relativ „sicherer“ Trick aufgetaucht sei, um Zuschauer zu beeindrucken.
Insbesondere haben die fiktiven russischen Offiziere in Surdez‘ Kurzgeschichte nur eine Kugel aus dem Zylinder des Revolvers entfernt und die anderen Kugeln in ihren Kammern gelassen. Dadurch reduzierten sie ihre Überlebenschancen erheblich. So schockierend es auch klingen mag, trotz des großen Risikos sind die Überlebenschancen beim Russischen Roulette relativ hoch, wenn mit nur einer Kugel in der Trommel „gespielt“ wird.
Zahlenspiele
Russisches Roulette folgt den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schuss abgegeben wird, steigt bei jeder Runde, davon ausgehend, dass es eine bestimmte Zahl leerer Kammern in der Trommel eines Revolvers gibt und diese nicht nach jedem Schuss gedreht wird.
Die klassische Variante des „Spiels“ wird mit einem 6-Schuss-Revolver gespielt. In den sechs Kammern der Trommel befindet sich nur eine Patrone. Das „Spiel“ beginnt, wenn der erste „Spieler“ sich den Lauf der Waffe an die Schläfe hält und abdrückt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Patrone beim ersten Versuch abgefeuert wird, liegt bei eins bis sechs oder 16,6 Prozent, beim zweiten Versuch bei 20 Prozent, beim dritten bei 25 Prozent, beim vierten bei 33,3 Prozent, beim fünften bei 50 Prozent. Gab es bis dahin keinen Treffer, ist der sechste Schuss garantiert immer tödlich, also 100 Prozent.
Der „Spieler“, der als zweiter schießt (wenn nur zwei „Spieler“ teilnehmen), hat einen Vorteil: Er muss nicht schießen, wenn der erste stirbt.
Wenn der erste „Spieler“ überlebt, sind die Überlebenschancen für den zweiten „Spieler“ stark verringert. Jetzt beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit 66,6 Prozent im Gegensatz zu 83,3%, die der erste „Spieler“ beim ersten Schuss hatte, es sei denn, der zweite „Spieler“ dreht die Trommel noch einmal.
Es ist für jeden „Spieler“ immer von Vorteil, die Trommel vor jedem Schuss zu drehen, da er auf diese Weise seine Überlebenschancen wieder auf die ursprünglichen 83,3 Prozent erhöht.
So überraschend es auch klingt, eine Person, die sich entscheidet, Russisches Roulette zu „spielen“ und dies nur einmal tut, wird wahrscheinlich überleben. Wahrscheinlich…. Die Realität kann grausam enden.
Russisches Roulette heute
Die Leute „spielen“ heute immer noch die Originalversion des Russischen Roulette, wie mehrere Fälle bestätigen. Beispielsweise untersuchte eine medizinische Studie (eng) allein im Jahr 2008 15 Todesfälle durch Russisches Roulette und verglich sie mit 75 Selbstmorden mit anderen Todesursachen. Überraschenderweise ergab die Studie, dass die meisten Opfer beim Russischen Roulette Afroamerikaner waren. Bei den anderen Todesursachen bei Suizid stellten weiße Amerikaner mehr Opfer. Ein typischer „Spieler“ von Russischem Roulette ist laut dieser Studie (in den USA) ein junger unverheirateter schwarzer Mann.
Eine andere medizinische Studie (eng) aus dem Jahr 1987 ergab, dass Personen, die sich auf das gefährliche „Spiel“ einließen, signifikant seltener depressiv waren, sich jedoch häufiger Drogen- und Alkoholmissbrauch in der Vorgeschichte fand als bei anderen Selbstmördern.
Es ist erschreckend, dass es offenbar so viele Todesfälle beim Russischen Roulette gibt, dass die Zahl ausreicht, um damit Studien durchzuführen.
Wir werden vielleicht nie den wahren Ursprung dieses tödlichen „Spiels“ erfahren. Wir können aber davon ausgehen, dass es viel weiterverbreitet ist, als wir ursprünglich gedacht hatten.