„Mutterschaftsurlaub“ für Bäuerinnen war in Russland früher unbekannt. Erst 1917 gab es diesen erstmals im Land bzw. weltweit. Während der Schwangerschaft wurde weitergearbeitet wie zuvor. „Sie erledigt die ganze Arbeit im Haus und auf dem Feld. Sie gräbt und hackt, drescht, pflanzt oder erntet Kartoffeln bis zur Geburt“, beschrieb Olga Semjonowa (Tjan-Schanskaja), eine russische Ethnografin aus dem 19. Jahrhundert, den Alltag der Bäuerinnen. „Einige Frauen gebären beim Kneten von Teig. Einige gebären auf dem Feld, andere in einem ruckelnden Wagen, einige Frauen haben es eilig, nach Hause zu kommen.“
Früher heiratete man jung in Russland. Im 16.-17. Jahrhundert lag das Heiratsalter für Jungen bei etwa 15 Jahren, für Mädchen bei etwa 13 Jahren. Im 19. Jahrhundert heirateten die Bauern meist zwischen ihrem 18. und 20. Lebensjahr. Schwangerschaften endeten für die sehr jungen Mädchen leider häufig mit einer Fehl- oder Totgeburt. Der jugendliche Körper war zu schwach für die Strapazen einer Schwangerschaft. In höherem Alter wurde es leichter, doch war die Kindersterblichkeit in vormedizinischen Zeiten sehr hoch. Eine Frau konnte zehn bis 15 Kinder zur Welt bringen, doch nicht alle würden es bis zum Erwachsenenalter schaffen. Daher gebaren russische Frauen so häufig.
Die erste Person, die informiert wurde, wenn bei einer Frau die Wehen einsetzten, war die Geburtshelferin. Selbst im traditionellen Russland gab es in jedem Dorf mehr als eine Frau, die wusste, was bei einer Geburt ohne Unterstützung eines Arztes zu tun war. Sie wurden Powituchas genannt.
Powituchas waren üblicherweise reife Frauen mit Kindern, die keine weiteren Kinder mehr gebären konnten. Sie wussten, wie man Kinder auf die Welt holt. Sie hatten es von ihren Müttern gelernt, die oft auch Powitucha waren. Erfahrene Powituchas waren so etwas wie „gute Hexen“. Sie kannten eine Menge uralter heidnischer Zaubersprüche. Sie kannten sich auch mit Kräutern aus und nutzten diese bei ihrer Arbeit.
Powituchas hielten Salome für ihre Schutzpatronin. Salome soll Überlieferungen zufolge bei der Geburt Christi anwesend gewesen sein. Im Evangelium steht davon allerdings nichts, so dass Salome in Russland eine „Volksheilige“ war. Beim Einsetzen der Wehen sprach die Powitucha meist diese Worte: „Mutter Salomonia, nimm die goldenen Schlüssel, öffne den Geburtsknochen für die Dienerin Gottes!“ und besprengte dazu die Gebärende mit Wasser aus einem Bach oder Fluss.
Russische Frauen haben in ihren Häusern nicht geboren. Die Isba, das Wohnhaus, galt als reiner Ort. Die Geburt eines Kindes verlief dagegen oft nicht so sauber. Daher dienten Scheunen (in der warmen Jahreszeit) oder Badehäuser als Geburtshaus. Traditionell gebaren russische Frauen im Stehen und hielten sich an einem Bettlaken fest, das über einen Balken gelegt wurde. Olga Semjonowa schrieb: „Manchmal musste eine Frau so lange an einem Balken hängen, dass ihr die Hände nach der Geburt zwei Wochen lang weh taten.“
Powituchas benutzten einige sonderbar erscheinende Methoden, um die Geburt zu unterstützen. Doch zeitgenössische Hebammen halten einige davon für durchaus sinnvoll. Wenn die Wehen zu schwach waren, bat ein Powitucha die Frau, dreimal um einen Tisch zu laufen. Oder sie sollte sich breitbeinig hinstellen und ihr Mann musste dreimal unter ihr hindurch kriechen. Offenbar sollte dies den Geburtsvorgang beschleunigen.
Wenn die Geburt länger als 24 Stunden dauerte, wurde dies als alarmierend angesehen (auch darin stimmen moderne Hebammen mit den Powituchas überein). In der Dorfkirche wurde ein Gebetsgottesdienst angeordnet, und die Powitucha begann zum Beispiel die Brüste der Frau zu massieren oder sie ließ die Frau ein heißes Bad nehmen, um die Geburt voranzubringen.
Neben göttlichem Beistand setzten die Powituchas auch auf alten Volksglauben. So befahlen sie den Angehörigen, alle Schlösser und Türen im Haus zu öffnen, überhaupt alles zu öffnen, was geschlossen war: alle Schnürsenkel an Schuhen, Riemen, Gürtel, Zöpfe … Alle gehorchten. Es war Tradition, die Anweisungen einer Powitucha während einer Geburt streng zu befolgen.
Die Powitucha durchtrennte die Nabelschnur des Neugeborenen und badete den neuen Erdenbürger zum ersten Mal. Sie blieb nach der Geburt noch einige Tage im Haus der Mutter und half ihr mit dem Baby. Sie brachte Kopf und Körper des Kindes in eine Linie und sie wusste Rat bei einem Gebärmutterprolaps, einer häufigen Komplikation nach der Geburt.
Nach einigen Tagen, meist nach der Taufe des Babys, verließ die Powitucha das Haus der Eltern. Sie erhielt Geld und Geschenke als Anerkennung. Zwei Brote, ein Taschentuch und 50 Kopeken (eine kleine Summe, mit der man eine Petroleumlampe oder einen Blecheimer kaufen konnte) waren die übliche Bezahlung für die Arbeit der Powitucha.
Es wurde angenommen, dass die Powitucha nach der Entbindung ein Leben lang mit dem Baby verbunden war. In russischen Dörfern war der Tag nach Weihnachten der Festtag der Powitucha. Jeder brachte Geschenke wie Pfannkuchen, Pasteten, Handtücher und Stoff zum Haus seiner Powitucha.
Erst 1757 wurden mit Hilfe von Pawlos Kondoidis (1710-1760), einem russischen Arzt griechischer Herkunft, die ersten professionellen Hebammenschulen zuerst in Moskau und St. Petersburg und dann in vielen anderen russischen Städten eröffnet. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Hebamme eine offizielle Position in russischen Städten. Professionelle Hebammen unterstanden formell der örtlichen Polizeiverwaltung.
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