1937 unterzeichnete Nikolai Jeschow, Leiter des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) und Hauptorganisator des Großen Terrors, den berüchtigten Befehl „Über die Operation zur Unterdrückung der Frauen und Kinder von Verrätern im Mutterland“. Ihnen drohten fünf bis acht Jahre Haft. Die Kinder im Alter von anderthalb bis 15 Jahren wurden in Waisenhäuser geschickt. Nach Angaben des Gulag-Geschichtsmuseums wurden auf Befehl von Jeschow 18.000 Frauen verurteilter „Verräter“ in Gefängnisse und Lager gesteckt und mehr als 25.000 Kinder in Waisenhäusern untergebracht.
Menschen, die dieses Elend ertragen haben, erinnern sich, dass sie in den meist überfüllten Waisenhäusern sehr schlecht ernährt wurden, so dass sie gezwungen waren, auf dem Müll nach Essen zu suchen. Viele wurden krank und starben oder wurden von den Erziehern im Waisenhaus körperlich gezüchtigt.
Die Pädagogen in den Waisenhäusern wurden angewiesen, die Kinder der „Verräter“ genau zu überwachen, um „antisowjetische, terroristische Gefühle und Aktionen rechtzeitig zu erkennen und zu unterdrücken“.
Sogar die Kinder von Spitzenbeamten wurden über Nacht zu Parias und zogen von luxuriösen Wohnungen um in Waisenhäuser. Zwar hätten die Kinder bei Verwandten unterkommen können, das war jedoch ein großer bürokratischer Aufwand. Auch hatten einige Familien Angst, weil dadurch zu viel Aufmerksamkeit und Misstrauen auf die eigne Familie hätte gelenkt werden können.
Eine gesonderte Kategorie unter den Kindern der Unterdrückten waren „sozial gefährliche Kinder“, die nach Jeschows Befehl in Lagern, Justizvollzugsanstalten oder Waisenhäusern des „Sonderregimes“ inhaftiert werden sollten.
So weigerte sich der 14-jährige Pjotr Jakir, seinen hingerichteten Vater als Verbrecher zu betrachten. Dafür wurde er in die Verbannung geschickt und später zu fünf Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Insgesamt verbrachte er 17 Jahre in Lagern und wurde erst im Alter von 31 Jahren freigelassen.
Pjotr Jakir mit seinem Vater
Museum für Moderne Geschichte RusslandsJugendliche, die in den Lagern landeten, oft zusammen in Zellen mit erwachsenen Kriminellen, wurden gemobbt und geschlagen. Schon in einem sehr jungen Alter waren sie gezwungen, Überlebenstechniken zu lernen. Sie waren schon früh gebrochen.
Im Gulag geborene Kinder wurden ihren Müttern fast immer sofort weggenommen. Viele Zwangsarbeitslager hatten spezielle Abteilungen, in denen sowohl im Lager geborene Kinder als auch diejenigen untergebracht waren, die mit ihren verurteilten Müttern angekommen waren (Kinder unter 1,5 Jahren durften mitgenommen werden).
Ihr Überleben hing vom Klima, in dem sich das Lager befand, der Länge der Haftstrafe und vor allem in vielen Fällen von der Haltung des Lagerpersonals, der Erzieher und der Krankenschwestern ab.
Nach ihrer Freilassung hatten ehemalige Lagerhäftlinge nicht das Recht, sich in Ballungsräumen niederzulassen. Sie mussten mindestens 100 Kilometer entfernt leben. Arbeit zu finden war auch ein Problem. Oft bekamen sie nur ein schäbiges Zimmer oder einen Schlafplatz in einem Wohnheim.
Viele konnten es sich nicht einmal leisten, an ihren Geburtsort zurückzukehren, und blieben in der Siedlung, die dem Lager am nächsten lag.
Selbst wenn es jemandem gelang, zurück in die Heimat zu kommen, musste er oft feststellen, dass die Wohnung der Familie beschlagnahmt und längst neu vergeben worden war.
1991 wurde das Gesetz „Über die Rehabilitation von Opfern politischer Repression“ verabschiedet, das Kinder von Unterdrückten als Opfer anerkannte und ihnen schließlich das Recht einräumte, an ihren Geburtsort zurückzukehren. Das Gesetz wurde später ergänzt, damit in den Lagern geborene Kinder in der Stadt, in der ihre Eltern vor ihrer Festnahme gelebt hatten, eine Unterkunft beantragen können.
Aus bürokratischer Sicht ist das Verfahren der „Rückkehr nach Hause“ jedoch äußerst komplex. „Rehabilitationsbescheinigungen“ und viele andere Dokumente müssen eingereicht werden. Danach muss sich der Antragsteller am vorgeschlagenen neuen Wohnort registrieren lassen. Doch jede Teilrepublik oder Region Russlands hat ihre eigenen Gesetze, Verfahren und Wartelisten für freien Wohnraum. Daher kann sich der Prozess manchmal über Jahrzehnte hinziehen.
Menschenrechtsaktivisten und Anwälte haben sich der Sache angenommen. Sie tun alles, um eine Entschädigung für Opfer von Repressionen zu erhalten, bevor es zu spät ist - und zwar nicht aus regionalen Budgets, sondern aus dem Bundeshaushalt, wie es bei behinderten Menschen, Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Opfern von Tschernobyl der Fall ist.
Aber noch gibt es für die Betroffenen kein Happy End.
„Russia Beyond“ dankt dem Museum für die Geschichte des Gulags und der Menschenrechtsorganisation Memorial für die Unterstützung bei diesem Artikel.
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