Besserer Durchblick: Wann erschienen die ersten Brillen in Russland?

Tretjakow-Galerie; Peterhof-Palast; Russisches Museum
Die Russen taten sich lange Zeit schwer damit, eine Sehschwäche einzugestehen und sich zur Brille zu bekennen.

Die erste bekannte Person in Russland, die eine Brille trug, war Zar Michail Fjodorowitsch, der erste Romanow. 1614 wurden „Kristallgläser für den Souverän gekauft, wobei eine Seite facettiert und die andere glatt war. Und wenn man hindurchschaut, wird vieles klarer“, heißt es in den Aufzeichnungen des Moskauer Hofes. 

Zar Michail Fjodorowitsch

Brillen zur Korrektur von Myopie, Kurzsichtigkeit, wurden im 16. Jahrhundert in Europa eingeführt und erschienen etwa ein Jahrhundert später in Russland. Allein in den Jahren 1671 bis 1672 wurden „491 Dutzend“ Brillen (5.892 Linsen) über Archangelsk nach Russland verschifft. Es gab also bereits einen Markt dafür in Russland. Zar Alexei Michailowitsch besaß sechs Brillen.  

In Russland waren Augenärzte gefragte Spezialisten. 1669 versuchten Zarenbeamte, den schwedischen Augenarzt Johann Ericsson einzustellen, aber die angebotene Bezahlung entsprach nicht dessen Vorstellungen. 

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen auch russische Handwerker, die visuelle Berufe ausübten, Schriftgelehrte, Ikonenmaler, Holzschnitzer, Goldschmiede, Silberschmiede, Uhrmacher sowie Sticker, Brillen zu benutzen. 

„Eine Brille untergräbt das Ansehen des Souveräns“ 

Die Brille von Katharina der Großen

Peter der Große benötigte bei seinem Vorhaben, eine russische Flotte aufzubauen, optisches Glas für Marineteleskope. Er gründete mehrere Glasfabriken und lud den deutschen Optiker Login Scheper ein, der die ersten Optikspezialisten in Russland ausbildete. Die russische Produktion von optischem Glas nahm jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts Fahrt auf. Die meisten Brillen, die Russen trugen, waren europäischer Herkunft. 

Katharina die Große bekam 1770 Probleme mit dem Sehvermögen und eine 1219 Rubel teure Lupe mit einer diamantbesetzten goldenen Einfassung wurde für sie angefertigt. Eine ihrer Brillen, ein gewöhnliches Modell, das auf der Nase getragen wurde, ist noch existent. 

Paul I., Katharinas Sohn, erbte die Kurzsichtigkeit seiner Mutter. Er und seine Frau Maria Fjodorowna verwendeten im Alltag Lorgnetten, eine Brille mit Griff. Maria Fjodorowna hielt sich aber auch sehr streng an die Etikette des Hofes. Sie glaubte, wie der Historiker Igor Simin schrieb, „dass Brillen dem Ansehen des traditionellen russischen Souveräns schaden“. Daher verzichtete sie in der Öffentlichkeit auf das Tragen von Sehhilfen. Offensichtlich galt die Verwendung von Brillen damals als Schwäche.  

Die Lorgnette, die Paul I. gehörte

Alexander I., Sohn von Paul und Maria Fjodorowna, litt ebenfalls unter angeborener Myopie. Auch er musste eine Lorgnette benutzen und er brauchte sie so oft, dass er sie unter der Manschette seiner Paradeuniform trug. Ständig verlor er sie oder sie ging zu Bruch. Er befestigte sie schließlich an den Knöpfen seiner Uniform. 

Das Monokel, das Alexander I. gehörte

Als Alexander Kaiser wurde, schämte er sich für sein schlechtes Sehvermögen und vermied das Tragen der Lorgnette. Sophie de Choiseul-Gouffier, eine Hofdame von Alexanders Frau Elizabeth Alexejewna, erinnerte sich: „Bevor der Kaiser sich verabschiedete, stand er auf und begann, ohne etwas zu sagen, den Boden abzusuchen. Er stellte sogar die Lampe auf den Teppich. Es stellte sich heraus, dass der Kaiser nach einer kleinen Lorgnette suchte, die er normalerweise benutzte und die unter den Tisch gefallen war.“ 

„Es gibt nichts, was man so genau betrachten müsste!“ 

Nicht einmal einer Hofdame wollte der Kaiser offenbaren, dass er auf eine Sehhilfe angewiesen war. Warum? Es galt immer noch als „ungehörig“, in der Öffentlichkeit eine Brille zu benutzen, als müsse man etwas sehr intensiv beobachten.

Eine Legende besagt, dass Graf Iwan Gudowitsch (1741-1820), Generalgouverneur von Moskau, in den Jahren 1809 bis 1812, Brillenträger hasste. Selbst in den Häusern anderer Leute schickte er, wenn er jemanden mit Brille sah, der ihn musterte, seinen Diener zu dieser Person und ließ ausrichten: „Es gibt nichts, was sich einer genauen Betrachtung lohnen würde! Nehmen Sie bitte Ihre Brille ab.“ Brillenträger durften Gudowitschs Haus und sein Arbeitszimmer nicht betreten.  

Fürst Alexander Gortschakow

Dieser Irrsinn war weit verbreitet. Der Diplomat Alexander Gortschakow musste den Kaiser um besondere Erlaubnis bitten, bei Hofe eine Brille tragen zu dürfen. In der Gesellschaft galt es als unverschämt, eine Frau oder einen leitenden Beamten durch eine Brille zu betrachten: Eine Brille ließ es so aussehen, als würde man nach Fehlern suchen.

Die Artefakte der Epoche zeigen, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht wurde, die Lorgnetten zu verstecken: Es gibt Fächer und Taschenuhren mit versteckten Lupen. Doch später nutzten die russischen Dandys ihre Lorgnetten demonstrativ. Seit den 1840er Jahren waren auch Monokel in Russland weit verbreitet.

Großherzog Konstantin Nikolajewitsch

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Brille schließlich „akzeptabel“. Großherzog Konstantin Nikolajewitsch (1827-1892), Nikolaus‘ Sohn und Leiter des Marineministeriums, war der erste Romanow, der keine Scheu hatte, mit einer Brille fotografiert zu werden. Sein unglücklicher Sohn Nikolaus Konstantinowitsch, das schwarze Schaf der königlichen Familie, trug die meiste Zeit seines späteren Lebens im Exil eine Brille. Viele öffentliche Personen und Staatsbeamte nutzen ebenfalls Sehhilfen. 

Großherzog Nikolaus Konstantinowitsch und seine Frau Nadeschda

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Einige Mitglieder der kaiserlichen Familie hielten Brillen jedoch nach wie vor für unpassend.  Alexandra Fjodorowna, die Frau von Nikolaus II., hatte ernsthafte Probleme mit dem Sehvermögen, wurde jedoch nie mit Brille oder Lorgnette fotografiert oder in der Öffentlichkeit gesehen.

Großherzogin Olga Konstantinowna

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