Formal gab es im zaristischen Russland Strafen für Frauen, die abtrieben. Sie mussten fünf Jahre Buße tun für die Abtreibung eines Fötus, im fortgeschritteneren Stadium einer Schwangerschaft waren es sieben Jahre. Die Tötung eines Neugeborenen wurde mit 15 Jahren Buße bestraft. Buße bedeutete Fasten, das Verbot, an bestimmten Gottesdiensten teilzunehmen, und täglich eine Reihe von Gebeten zu sprechen. Abtreibungen, auch erzwungene, kamen häufig vor.
Abtreibungen wurden in großem Umfang und ohne die Hilfe von Medizinern durchgeführt, oft von Hebammen und Heilern, die in russischen Dörfern praktizierten. Die Fehlgeburten wurden üblicherweise durch die Einnahme bestimmter Kräutermischungen und ein heißes Bad ausgelöst.
In den staatlichen Gesetzen wurden Abtreibungen erst im 17. Jahrhundert erwähnt. Im Jahr 1649 setzte Sobornoje Uloschenije („Ratskodex“), Russlands Gesetzbuch, Abtreibung mit Kindsmord gleich. Die Todesstrafe wurde sowohl gegen die Frau, die eine Abtreibung hatte, als auch für jeden, der ihr dabei half, verhängt. Diese Norm wurde jedoch selten, wenn überhaupt, tatsächlich angewendet.
Abtreibung im Russischen Reich
1715 ordnete Peter der Große in seinem Militärstatut die Todesstrafe für Kindsmord an - er erwähnte dabei jedoch nicht ausdrücklich Abtreibungen, so dass diese ebenso wie herbeigeführte Fehlgeburten bis zum 19. Jahrhundert eine Grauzone des russischen Rechts waren.
Nach dem Strafgesetzbuch von 1832 wurden Hebammen, die eine Abtreibung unterstützten, mit Geißelung und Arbeitslager bestraft. Die Frauen, die abtrieben, blieben straffrei. Im Jahr 1845 konnten Hebammen, die ohne Zustimmung oder Wissen einer Frau Abtreibungen durchführten, mit vier bis sechs Jahren Zwangsarbeit bestraft werden und bis zu zehn Jahren, wenn die Frau dabei verletzt wurde oder starb. Abtreibung mit Zustimmung einer Frau wurde mit Verbannung nach Sibirien bestraft. Diese Strafe drohte auch Frauen, die ohne Hilfe abgetrieben haben. Wenn eine Person, die eine Abtreibung durchführte, eine medizinische Ausbildung hatte, war die Bestrafung strenger. Die Tötung eines Neugeborenen wurde in vollem Umfang mit Mord gleichgesetzt und mit lebenslänglich harter Zwangsarbeit bestraft.
Das Strafgesetzbuch von 1903 milderte die Strafen etwas ab. Die Betroffenen wurden nur noch in ein Arbeitshaus gebracht. Die Tötung eines in einer Ehe geborenen Kindes führte jedoch wieder zu zehn Jahren Zwangsarbeit.
Abtreibungen als solche wurden unterschiedlich bestraft. Frauen, die Selbstabtreibungen durchführten, wurden bis zu drei Jahre in einem Arbeitshaus festgehalten. das gleiche galt für alle, die die Abtreibung unterstützt hatten. Hebammen, die regelmäßig Abtreibungen durchführten, sollten bekannt gemacht werden, und schließlich führte die Durchführung einer Abtreibung ohne Zustimmung der Frau zu acht Jahren Zwangsarbeit. So schwer die Strafen auch waren, sie wurden tatsächlich nur selten verhängt. So gab es von 1910 bis 1914 nur 139 Gerichtsverfahren wegen Abtreibungen in Russland, was bedeutet, dass es wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer unentdeckter Abtreibungen gab.
Abtreibung in Sowjetrussland und UdSSR
Sowjetrussland war 1920 das erste Land der Welt, das die vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft durch medizinische Intervention vollständig legalisierte. Jede Frau konnte diesen Eingriff kostenlos in einer speziellen medizinischen Einrichtung vornehmen lassen. Im Jahr 1922 kriminalisierte das neue Strafgesetzbuch Russlands Abtreibungen, die von Menschen ohne medizinische Ausbildung oder unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt wurden.
Abtreibungen waren Frauen, die zum ersten Mal schwanger waren, und Frauen, die in den sechs vorherigen Monaten bereits eine Abtreibung hatten, verboten.
Ab 1930 wurde eine Gebühr für die Durchführung von Abtreibungen eingeführt, die schnell anstieg: 18 bis 20 Rubel im Jahr 1930, 60 Rubel im Jahr 1933 und bis zu 300 Rubel nach 1935. Das durchschnittliche Gehalt einer berufstätigen Frau betrug zur damaligen Zeit 100 bis 120 Rubel. Aber sie wurden noch immer sehr häufig vorgenommen. 1935 beispielsweise verdiente der Staat allein in Leningrad 3,6 Millionen Rubel durch Abtreibungen.
1936 wurden Abtreibungen verboten. Eine Ausnahme bildeten medizinische Gründe. Warum? Aaron Soltz, stellvertretender Generalstaatsanwalt der UdSSR, drückte die offizielle Position in einem Artikel in der Zeitung „Trud“ (zu Deutsch „Arbeit“) aus: „Wir haben nicht genug Leute. Wir haben so viel zu tun! … Wir brauchen immer mehr Kämpfer, Erbauer dieses Lebens. Wir brauchen Nachwuchs! Abtreibung, die Zerstörung entstehenden Lebens, ist in unserem Staat, der den Sozialismus aufbaut, inakzeptabel ... “
Unmittelbar nach dem Verbot ging die Zahl der Abtreibungen stark zurück - aber ab 1937 nahm sie wieder zu. Das betrifft die erlaubten Abtreibungen aus medizinischen Gründen. 1937 waren es 568.000, 1939 lag die Zahl bei 723.000. 1940 wurden in der UdSSR insgesamt 807.000 Abtreibungen registriert. Soziologen schätzen, dass es tatsächlich zehnmal so viele illegale Abtreibungen gab! Nach dem Verbot hat sich die Zahl der Frauen, die an einer Blutvergiftung gestorben sind, vervierfacht. Dies war eine Folge illegaler Abtreibungen. Und es gab einen starken Anstieg bei den Kindstötungen. Diese machten 25 Prozent aller Tötungsdelikte aus.
1955 wurden Abtreibungen erneut legalisiert, teilweise dank Maria Kowrigina, der neuen Gesundheitsministerin - allerdings nur in Krankenhäusern. Ansonsten war es immer noch eine Straftat. Ab 1962 wurden Abtreibungen wieder kostenlos. So sank die Müttersterblichkeit und die Abtreibungsraten erreichten ihren Höhepunkt. Mitte der 1960er Jahre wurden allein in der Russischen Sowjetrepublik jährlich etwa 5,6 Millionen Abtreibungen durchgeführt.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik jährlich etwa 4,5 Millionen Abtreibungen durchgeführt. Bis 1990 sank diese Zahl auf 3,9 Millionen.
Im heutigen Russland sind Abtreibungen legal. Der Eingriff wird von der staatlichen Krankenversicherung bezahlt. 1999 wurden jährlich etwa zwei Millionen Abtreibungen durchgeführt, 2017 waren es noch 627.000.