Der Traum vom Fliegen: Wer war Russlands erste Pilotin?

Geschichte
BORIS JEGOROW
Mehr als einmal ist Russlands erste Pilotin, Lidija Swerewa, dem Tod auf ihren waghalsigen Flügen entkommen. Sie starb jung, jedoch an etwas ganz anderem.

„Den russischen Frauen den Weg in die Luftfahrt zu öffnen. Ich lade sie ein, mir zum vollständigen Sieg über die Luft zu folgen“, formulierte Lidija Swerewa, die erste Frau am Steuer eines Flugzeuges in der russischen Geschichte, ihr Ziel. In ihrem kurzen Leben wurde sie nicht nur als Pilotin, sondern auch als Flugzeugkonstrukteurin berühmt.

Der Traum vom Fliegen

Lidija, die Tochter eines zaristischen Generals, war von Kindheit an von der Luftfahrt besessen. Mit Begeisterung las sie Artikel und Bücher über die Luftfahrt, zerlegte komplexe mechanische Spielzeuge und konnte stundenlang über Luftballons und Flugmaschinen sprechen. Sie absolvierte sogar Testflüge, indem sie mit einem Regenschirm vom Dach einer Scheune sprang.

„Schon als kleines Mädchen war ich begeistert, Ballons in der Festung Osowiec aufsteigen zu lassen, und ich baute Modellflugzeuge zu einer Zeit, als noch niemand in Russland flog und die Zeitungen gerade erst anfingen, gelegentlich über die Erfolge ausländischer Konstrukteure zu berichten“, erzählte Swerewa.

Lidija ließ sich nicht davon abschrecken, dass die Luftfahrt zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Anfang ihrer Entwicklung stand und das Fliegen eine potenziell tödliche Angelegenheit war. Die zerbrechlichen, unzuverlässigen Flugzeuge drehten sich bei starkem Wind leicht und stürzten ab. Jedes Jahr kamen Dutzende von Fliegern ums Leben.

Trotzdem schrieb sich Lidija Swerewa an der privaten Flugschule Gamajun außerhalb von St. Petersburg ein. Lokale Zeitungen schrieben über die erste Frau, die sich zur Pilotin ausbilden lassen wollte und nannten sie aus Respekt vor ihrer Privatsphäre nur „Fräulein S.“.

„Swerewa war eine kühne und entschlossene Pilotin. Ich erinnere mich daran, wie jeder auf ihre meisterhaften Flüge, einschließlich der Höhenflüge, achtete. Zu dieser Zeit riskierten jedoch nicht alle, eine solche Höhe zu erreichen“, erinnerte sich ihr Mitschüler Konstantin Arzeulow.

Lidija hatte mehrere schwere Unfälle, kam aber immer mit kleinen Kratzern davon. Infolgedessen erhielt das 21-jährige „Fräulein S.“ am 23. August 1911, nachdem sie alle erforderlichen Prüfungen bestanden hatte, als erste Frau im Russischen Reich das Piloten-Zertifikat mit der Nr. 31.

Eine talentierte Flugzeugkonstrukteurin

1912 lebte Lidija Swerewa zusammen mit ihrem Ehemann, dem Piloten und Fluglehrer Wladimir Sljusarenko, davon, Demonstrationsflüge zu zeigen. Sie nahmen an einer Luftfahrtwoche in Baku teil und traten in Tiflis auf, wo sie unter schwierigen Wetterbedingungen fliegen mussten. 

Eine Reise nach Riga wäre fast Swerewas letzte geworden. Während eines Demonstrationsfluges drückte der Wind ihren Farman in Richtung der Tribünen. Als sie versuchte, an Höhe zu gewinnen, wurde sie von einer heftigen Böe erfasst und stürzte ab. Beim Aufprall wurde sie unter den Trümmern ihrer Maschine begraben. „Ich bin mehr tot als lebendig“, schrieb sie kurz darauf in einem Brief. „Ich habe mir beim Absturz fast das Bein gebrochen. Es schmerzt noch immer. Meine Lungen sind ziemlich schwach. Die Ärzte bestehen darauf, dass ich unbedingt in den Süden reise. Aber ich möchte wieder fliegen. Sie prophezeiten mir Lungenversagen, wenn ich ihren Rat nicht befolgen würde. Das ist das Fliegerleben.“

Trotz des Unfalls oder vielleicht auch deswegen waren Swerewas Vorführungen äußerst beliebt. Das Paar wurde eingeladen, in Riga zu bleiben, ein Angebot, das sie gerne annahmen. Die große baltische Stadt war zu dieser Zeit das Zentrum der russischen Luftfahrt. Insbesondere wurden hier die ersten Flugzeugtriebwerke des Landes hergestellt.

1913 eröffnete das Paar seine eigene Flugschule in Riga. Die Kosten für den Unterricht waren die niedrigsten im Imperium. Außerdem organisierten sie eine Werkstatt für Flugzeugreparatur und -bau, in der Swerewa als Flugzeugkonstrukteurin daran arbeitete, in westlichen Ländern entworfene Flugzeuge zu verbessern. Mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten wurde Swerewa eingeladen, nach Österreich-Ungarn zu kommen, doch sie entschied sich, in Riga zu bleiben.

Ein tragisches Ende

Lidija Swerewa wurde trotz ihrer Beschäftigung als Fluglehrerin und Konstrukteurin nicht ruhiger oder vorsichtiger. Russlands erste weibliche Fliegerin flog so intensiv weiter wie zuvor und riskierte dabei ihr Leben.

Sie beschloss sogar, eine Schleife am Himmel zu fliegen, wenn auch nur als Co-Pilotin. Der Flug fand am 19. Mai 1914 in einem Morane-Eindecker mit dem erfahrenen Piloten Jewgeni Spitzberg am Steuer statt.

„Die Morane gewann schnell an Höhe - 500, 600, 700 Meter", schrieb die Zeitung „Richski  Westnik“. „Auf 800 Metern verstummte der Motor plötzlich und die Maschine ging in den Sturzflug. Ein Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer. Aber ein paar Sekunden später war das Brummen des Motors wieder zu hören und die Maschine schoss wieder nach oben und flog eine Schleife. Die verzauberte Menge brach in Applaus aus. Und einige Momente später vollführte das Flugzeug eine anmutige Spirale, als es in Richtung Tribünen flog. ‚Bravo! Bravo!‘ war von allen Seiten zu hören…“ Der erste Pilot der Welt, der dieses Kunstflugmanöver durchführte, Pjotr Nesterow, drückte Swerewa seine Bewunderung aus.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die Flugzeugwerkstatt des Paares nach Petrograd evakuiert (wie St. Petersburg damals genannt wurde). Sie wurde zu einer Fabrik, in der 300 Mitarbeiter beschäftigt waren, um Aufträge für das Militär zu erfüllen. Lidija Swerewa war nicht dazu bestimmt, das Ende des Weltkriegs zu erleben. Nachdem sie sich mehrfach dem Tod in der Luft widersetzt hatte, starb sie am 16. Mai 1916 im Alter von 26 Jahren an Typhus. Die Fliegerin wurde auf ihrer letzten Reise von ihren Freunden und Schülern begleitet, die den Friedhof des Alexander-Newski-Klosters in Petrograd während der Beisetzungsfeierlichkeiten mit ihren Farmans überflogen.

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