Die früheste Erwähnung von Rurik findet sich in der Primären Chronik (oder der „Erzählung vergangener Jahre" in der russischen Tradition) - der frühesten erhaltenen russischen Letopis („Chronik"). Sie wurde im 12. Jahrhundert geschrieben, etwa 150 bis 200 Jahre nach Ruriks Tod. Aufgrund von nur sehr spärlichen Informationen gibt es bis heute immer noch Diskussionen über Rurik.
Das 8. bis 11. Jahrhundert war in Europa als das „Zeitalter der Wikinger" bekannt, als Normannen (Nachkommen der Wikinger, Anm. d. Red.) und nordeuropäische Konungs (Häuptlinge) Städte und Staaten auf dem Kontinent und auf der englischen Insel belagerten, plünderten und besteuerten. In diesem Zeitalter - so berichtet die Chronik im Jahr 862 - wurden ein Waräger namens Rurik und seine Brüder (oder Partner) Sineus und Truvor von verschiedenen slawischen Stämmen, die das Gebiet um Nowgorod bewohnten, in die russischen Länder gerufen.
Laut der Chronik lautete die Botschaft der Slawen an die Waräger: „Unser Land ist groß und reich, aber es herrscht keine Ordnung darin. Komm und herrsche über uns." Die Aufzeichnungen besagen, dass Rurik daraufhin nach Nowgorod kam und er dessen Herrscher wurde, während seine „Brüder" in Beloozero (Sineus) und Izborsk (Truvor) saßen. Nachdem sie gestorben waren, wurde er auch der alleinige Herrscher dieser Länder bis zu seinem eigenen Tod im Jahr 879. Danach ging die Macht an Oleg den Propheten über und so begann die Dynastie der Rurikiden.
Aber ist das in der Realität jemals wirklich so passiert? Wir stellen die Argumente dafür und dagegen vor.
Rurik war eine reale historische Figur
Befürworter der sogenannten „Normannen-Theorie" argumentieren, dass Rurik eine reale historische Figur war, ein normannischer Häuptling, der am Fundament des zukünftigen russischen Staates stand. Der Historiker Evgeny Pchelov, der Autor von Ruriks wissenschaftlicher Biographie, argumentiert, dass die Varyags (Waräger) der russischen Chroniken Normannen waren, d.h. Häuptlinge und Nachfahren der Wikinger, und dass Rurik definitiv einer von ihnen war.
Er merkt zudem an, dass im frühen 16. Jahrhundert Spiridon, der Metropolit von Kiew, den Stammbaum der Moskauer Großfürsten auf Rurik zurückführte und gleichzeitig behauptete, dass Rurik ein Nachkomme eines Verwandten von Cäsar Augustus (63 v. Chr. - 14 n. Chr.), dem römischen Kaiser, war. Somit waren die Moskauer Großfürsten als Nachkommen von Augustus zu behandeln und somit als Könige. Für den Staat Moskau war also die Realität von Rurik eine ideologische Grundlage ihrer Herrschaft.
Aber gibt es genug Quellen, die beweisen, dass Rurik wirklich existierte?
Archäologische Beweise belegen, dass im 9. Jahrhundert, als Rurik angeblich lebte (sein Tod ereignete sich den Chroniken zufolge im Jahr 879), die Länder Nordrusslands - Nowgorod, Pskow, Izborsk und andere Städte - tatsächlich unter starkem Einfluss skandinavischer Warägerstämme standen und mit ihnen Handel trieben. Die frühesten russischen Namen, wie Oleg, Gleb, Igor, Rogneda, haben skandinavische Wurzeln, und das Wort „Rus'", das später zur Wurzel des Namens „Russen" wurde, war der Name der Sippe, der Rurik angehörte, so die Primäre Chronik.
Viele renommierte russische Historiker behaupteten, dass der Rurik, der nach Russland kam, in Europa als Rorik von Dorestad (810-880) bekannt war. Er soll ein dänischer Wikinger gewesen sein, der die Länder von Jütland (heute bekannt als die zimbrische Halbinsel) eroberte, über die mittelalterliche Stadt Dorestad herrschte und kurzzeitig holländische Ländereien besaß, einschließlich Utrecht. In seinen späteren Jahren kam er in die Länder von Nowgorod und slawische Stämme im Austausch für Schutz besteuerte.
Wie ein anderer renommierter russischer Historiker des Mittelalters, Anton Gorsky, anmerkt, wird das russische Volk in einigen byzantinischen Chroniken als „das Volk, das von den Franken (das wiederum vom germanischen Volk seine Abstammung begründet, Anm. d. Red.) abstammt" bezeichnet. Dies weist auf die Möglichkeit hin, dass Rurik von Nowgorod und Rorik von Dorestad dieselbe Person sind. Allerdings gibt es keine sicheren und unbestrittenen historischen oder archäologischen Beweise für Ruriks Existenz.
Rurik war ein Mythos
Die russischen Historiker Elena Melnikova und Vladimir Petrukhin halten die Geschichte von der Beschwörung der Waräger für einen historischen Mythos. Diese Legende entspricht ihrer Meinung nach traditionellen Volkserzählungen über die Ursprünge der Staatsmacht und der herrschenden Dynastie, wie sie auch in den alten Geschichten anderer Völker zu finden sind.
Der Historiker Igor Danilewski, ein weiterer renommierter Spezialist für die Geschichte des alten und mittelalterlichen Russlands und ein Gegner Ewgeni Ptschelows bezüglich der Frage der Existenz Ruriks, sagt: „Die Legende von der Beschwörung Ruriks ist wahrscheinlich tatsächlich nur eine Legende, und wir wissen nicht, ob sie überhaupt eine Grundlage in der Realität hat."
Um seinen Standpunkt zu beweisen, hebt Danilewski die folgende Tatsache hervor: Widukind von Corvey (925-973), ein mittelalterlicher sächsischer Chronist, der ein Jahrhundert nach der angeblichen Existenz Ruriks und etwa ein Jahrhundert vor der Entstehung der Primären Chronik lebte, erwähnt in seiner Schrift „Die Taten der Sachsen", dass die Briten sich an die Sachsen mit ungefähr der gleichen Botschaft wandten, die die Slawen an die Waräger schickten: „Unser Land ist reich und fruchtbar, aber wir sind ständig unter Beschuss [von anderen Stämmen]."
Danilewski argumentiert dann, dass die Beschreibung in der Primären Chronik rein fiktiv sei und geschaffen wurde, um die Legitimität der Rurikiden-Dynastie ideologisch zu unterstützen, die im 11. Jahrhundert um die Kontrolle der russischen Länder kämpfte.
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Die Diskussion über die Realität von Rurik als historische Figur wird unter den russischen Historikern wahrscheinlich nie aufhören. Es ist möglich, dass einige neu entdeckte Quellen neues Licht auf die Angelegenheit werfen werden. Fürs Erste gibt es den Konsens, dass irgendein Fürst, vielleicht Rurik, tatsächlich die Rurikiden-Dynastie gründete, die schließlich die politische Macht in Russland übernahm. 862 gilt immer noch als das Anfangsjahr der russischen politischen Geschichte. Allerdings wurde Russland nicht im Jahr 862 als Staat gegründet - das geschah später, wahrscheinlich im 15. Jahrhundert.