1. Marschall der Sowjetunion zu werden, war für jeden Kommandeur der Roten Armee ein lang gehegter Traum und der Höhepunkt seiner Karriere. Es waren Generäle wie Schukow, Rokossowski und Konew, die als Befehlshaber ganzer Fronten und Chefs des Generalstabs den Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg ermöglichten. Doch unter all diesen „Marschällen des Sieges“ gab es auch einen „Marschall der Niederlage“.
2. Die Artillerie war Grigorij Kuliks ganzes Leben lang ein Anliegen. Während des Ersten Weltkriegs stieg er vom Gefreiten bis zum Oberbombardier (einem ranghohen Unteroffizier der Artillerie) auf. Im Russischen Bürgerkrieg befehligte er erfolgreich Artillerieeinheiten und Untereinheiten. Während der Verteidigung von Zarizyn (das später in Stalingrad umbenannt wurde) traf Kulik auf Stalin und konnte sich dessen Respekt verdienen.
3. „Im Gegensatz zu einigen seiner Untergebenen hatte er keine Angst vor der Verantwortung und traf manchmal - ausgehend von seinem eigenen Verständnis der Interessen zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit des Landes - Entscheidungen, die mehr als riskant waren", schrieb der Artilleriewaffenkonstrukteur Wassili Grabin über Kulik. Während des Großen Terrors schickte Kulik beispielsweise einen Brief an Stalin, in dem er seine Besorgnis über die Säuberungen im Führungsstab der Roten Armee zum Ausdruck brachte, die seiner Meinung nach die Kampfkraft der Sowjetunion untergruben. Diese Episode hatte jedoch keine negativen Auswirkungen für ihn.
4. Der Beginn des Krieges gegen Finnland war sowohl für Kulik, als auch für die gesamte sowjetische Führung ein Misserfolg. Und doch war es die von Kulik ausgebildete Artillerie, die beim Durchbruch der Mannerheim-Linie im Februar 1940 eine entscheidende Rolle spielte. Am 21. März desselben Jahres wurde er mit dem Titel „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet und am 7. Mai zum Marschall befördert.
5. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde Marschall Kulik an die Westfront entsandt, um die dortige Führung zu unterstützen. Doch fast unmittelbar nach seiner Ankunft wurde seine Einheit eingekesselt. Erst zwei Wochen später gelang die Wiedervereinigung mit den anderen Verbänden der Roten Armee.
6. Das nächste Fiasko des Marschalls war die erste Sinjawino-Offensive im September 1941, als es ihm nicht gelang, die Belagerung von Leningrad von außen zu durchbrechen. Einer der Hauptgründe für die Niederlage war der Konflikt zwischen Kulik und Schukow, der zu dieser Zeit den Posten des Kommandeurs der Leningrader Front innehatte und die Offensive von der belagerten Stadt aus leitete. Die beiden Seiten konnten sich nicht auf gemeinsame, koordinierte Aktionen einigen. „Ich erinnere mich an diesen Mann mit einem bitteren Gefühl", schrieb Marschall Alexander Wassilewski in seinen Memoiren. – „Zu Beginn des Krieges führte er die Befehle des Generalstabs im Westen eher schlecht aus, dann kommandierte er ebenso schlecht eine der Armeen in der Nähe von Leningrad. Aufgrund seiner unangenehmen persönlichen Eigenschaften genoss er keinen Respekt bei den Truppen und wusste nicht, wie man diese organisiert."
7. „G. I. Kulik war ein schlecht organisierter Mensch, der sich selbst sehr hochschätzte und alle seine Handlungen für unfehlbar hielt. Oft war es schwierig zu verstehen, was er wollte und was er anstrebte. Er hielt es für den besten Modus Operandi, seine Untergebenen in Angst und Schrecken zu versetzen", erinnerte sich der Obermarschall der Artillerie Nikolai Woronow.
8. Stalins Geduld war nach den Ereignissen auf der Krim Anfang November 1941 am Ende. Kulik hatte als Hauptquartiersvertreter des Oberkommandos den Auftrag, alles zu tun, um die Stadt Kertsch im Osten der Halbinsel zu halten. Als Kulik jedoch die geschwächten und desorganisierten Truppen sah, gab er den Befehl, sie über die Meerenge auf die Halbinsel Taman zu evakuieren, wo er Verteidigungslinien errichten wollte. Ende der 1950er Jahre stellte eine Untersuchung einer Sonderkommission fest, dass es unter diesen Umständen ohnehin unmöglich gewesen wäre, die Stadt zu halten. In den Kriegsjahren war das Oberkommando jedoch anderer Meinung, und Grigorij Kulik wurde militärischen Fehlverhaltens beschuldigt.
9. Neben der Kapitulation von Kertsch – „entgegen den Befehlen Stalins“ - wurde dem Marschall auch vorgeworfen, Rostow am Don aufgegeben zu haben, wohin er vom Generalstab als deren Vertreter entsandt worden war. „Kuliks Versagen besteht darin, dass er die sich bietenden Gelegenheiten zur Verteidigung von Kertsch und Rostow nicht nutzte und sich wie ein Feigling verhielt, der sich vor den Deutschen fürchtete, wie ein Defätist, der die Zuversicht verlor und nicht an unseren Sieg über die deutschen Invasoren glaubte", hieß es in einem Bericht des Volkskommissariats für Verteidigung. Am 19. Februar 1942 wurden Kulik der Rang eines Marschalls und der Titel eines Helden der Sowjetunion sowie alle seine Auszeichnungen aberkannt.
10. Grigorij Kulik wurde in den Rang eines Generalmajors zurückgestuft und nahm weiterhin an militärischen Operationen teil, wenn auch in begrenztem Umfang, bei denen er keine sichtbaren Erfolge erzielte.
11. Kulik dachte nie daran, sich die Schuld für seine Misserfolge zu geben. Nachdem er nach dem Krieg faktisch auf den Posten eines stellvertretenden Befehlshabers des Wolga-Militärbezirks verbannt worden war, kritisierte er in informellen Gesprächen mit seinen Kollegen offen die „Emporkömmlinge“ in den höheren Rängen und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es um seine Kritik an der Führung des Landes ging. Schließlich wurde Kulik Anfang 1947 zusammen mit zwei Generälen desselben Militärbezirks verhaftet und drei Jahre später „wegen Organisation einer Verschwörung zum Kampf gegen das Sowjetregime“ erschossen. Erst nach der Machtübernahme durch Nikita Chruschtschow wurde Kulik posthum wieder in den militärischen Rang eines Marschalls erhoben und erhielt den Titel eines Helden der Sowjetunion sowie seine staatlichen Auszeichnungen zurück.