Als die Revolution von 1917 ausbrach, lag die Zahl der Russen, die lesen und schreiben konnten, bei 20 Prozent. Eines der Hauptziele der Bolschewiki war die Ausrottung des Analphabetismus, an der sie seit 1919 arbeiteten. Doch um den Menschen das Lesen beizubringen, brauchte man Zeit - die Propaganda musste also schnell arbeiten. Denn die Analphabeten - die Arbeiter, Bauern und Soldaten - waren die Hauptzielgruppe. Aber es gab noch ein weiteres Problem in jenen Anfangsjahren: Es herrschte ein akuter Mangel an Druckressourcen. So kam es zu der genialen Idee der „sprechenden“ Zeitung.
Arbeiter des „Sowkino“ (sowjetisches Kino), einer „sprechenden“ Zeitung.
Zentrales Staatsarchiv für Film- und Fotodokumente von St. PetersburgDer Vorläufer für die Entstehung einer solchen Zeitung war die katastrophale Papierknappheit während des Bürgerkriegs.
Soldaten lesen eine Zeitung.
Kunst- und Geschichtsmuseum Murom/russiainphoto.ruAnfangs wurden die revolutionären bolschewistischen Zeitungen einfach vor großen Gruppen von Menschen laut vorgelesen. In der ersten sowjetischen Fachzeitschrift „Der rote Journalist“ fand man viele Inhalte über die so genannten „sprechenden“ Zeitungen, in denen die Redakteure Tipps austauschten und diskutierten, was funktionierte und was nicht.
Agitationswagen in Petrograd (St. Petersburg).
MAMM/MDF/russiainphoto.ruIn Smolensk zum Beispiel wurden die „sprechenden“ Zeitungen im zentralen Park verlesen. Sie enthielten u. a. aktuelle Kolumnen sowie eine Auswahl an Nachrichten. Die Redakteure stellten jedoch bald fest, dass Satire, Humor und Poesie bei den Zuhörern besonders gut ankamen. Die empfohlene Höchstdauer für eine Lesung betrug eine Stunde - nicht mehr.
Zeitung „Parowos“ (Dampfzug).
Archive photoMit der Zeit wurde klar, dass das normale Zeitungsmaterial für die auditive Verdauung zu schwierig war und speziell für das Lesen aufbereitet werden musste. Außerdem konnte man das Lesen nur einem wirklich fähigen Redner anvertrauen. Schon bald fuhren Propagandazüge und -wagen durch das Land, zeigten Filme, hielten Lesungen ab, verkündeten ideologische Appelle und verbreiteten die Nachricht vom Sieg der Roten.
Agitationszug „Sowjetisches Kino“.
MAMM/MDF/russiainphoto.ruAber auch nachdem das Material zum Lesen aufbereitet worden war, begannen beispielsweise die Soldaten oft, gewissermaßen einzuschlafen. So entwickelten sich die „sprechenden“ Zeitungen zu „lebenden“ Zeitungen - eine ganze Theateraufführung.
Aufführungen des Kollektivs der Transportkonsumentengesellschaft der Oktjabrskaja-Eisenbahn.
Archive photoEigens ausgebildete Schauspieler spielten Szenen und versuchten deutlich zu machen, wie schrecklich der Feind (die Bourgeoisie) wirklich war und warum man ihn bekämpfen solle. Sie sangen Lieder, führten Reime, Choreografien und anderes auf.
Auftritte des Kollektivs der Gesellschaft der Transportkonsumenten der Oktjabrskaja-Bahn.
Archive photoDas neue Phänomen kam richtig in Schwung. So sehr, dass es bis in die 1930er Jahre hinein „lebende“ Zeitungen gab. Ganze Amateurtheaterkollektive traten auf. Mit der Zeit wurden die Inszenierungen komplexer, sowohl was den Inhalt als auch was die Bühnendekoration betraf.
Auftritte des Kollektivs der Gesellschaft der Verkehrsverbraucher der Oktjabrskaja-Eisenbahn.
Archive photoDie „Live-Zeitungen“ hatten auch die wichtige Aufgabe, praktische Informationen zu vermitteln. Einige davon betrafen neu erlassene Gesundheitsnormen oder die Behandlung neuer Infektionskrankheiten usw. Typhus und Cholera wüteten zu dieser Zeit in Russland, so dass sich die Agitationsbrigaden oft auf die Bekämpfung dieser Krankheiten konzentrierten: Dazu gehörte die Notwendigkeit Läuse auszurotten, geschlossene Räume zu lüften und nur sauberes Wasser zu trinken. Alles wurde in volkstümlichem Singsang vorgetragen.
Pulse Live-Zeitung.
Archive photo„Vom Kropf befallen, den Atem anhalten“
„Lesen Sie die Zeitung“
„Nur Wahrheit, und nicht Mythos“
„In ihr wirst du finden."
Kollektiv der Armeezeitung.
Kunst- und Geschichtsmuseum Murom/russiainphoto.ruDer Hauptunterschied zu einer Bühnenproduktion bestand darin, dass die „lebenden“ Zeitungen politische, oft aufrührerische Stadtgespräche führen mussten. Nach dem Bürgerkrieg fanden die Aufführungen nicht mehr vor Soldaten statt, sondern in Clubs, Gemeindezentren, Schulen und Parks.
Mitglieder des „Blauen Waffenrocks“.
Bachruschin Staatliches zentrales TheatermuseumEines der politisch aktivsten Theaterkollektive war der „Blaue Waffenrock". Es verfügte über zahlreiche Agitationsbrigaden, die mit avantgardistischen Kostümen und musikalischer Untermalung die Botschaft der revolutionären Kunst und der politischen Information in die Massen trugen.
Samson Galperin, Anführer einer Gruppe des „Blauen Waffenrocks“.
Bachruschin Staatliches zentrales TheatermuseumSzenen, Monologe, Verse, Volksreime – „lebende“ Zeitungen verkörperten die Entwicklung der sowjetischen Presse und ihre Vorliebe für Satire und Feuilleton. Und als das Analphabetentum endlich abgeschafft war, wurden diese aktuellen Verse und Monologe in den Parks und Gemeindezentren der UdSSR noch jahrelang aufgeführt.
„Blauer Waffenrock“ tritt bei der Eröffnung des Gorki-Parks in Moskau auf.
Russisches Staatliches Film- und Fotoarchiv, KrasnogorskAlle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
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