Am 16. April 1922 fand ein Ereignis statt, das die westeuropäischen Mächte zutiefst erschütterte. In Rapallo bei Genua unterzeichneten Sowjetrussland und die Weimarer Republik einen Vertrag über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die Beilegung aller Streitigkeiten und die Gestaltung einer langfristigen Zusammenarbeit. Beide „Schurkenstaaten“ sandten damit eine klare Botschaft an die Entente, dass sie nicht die Absicht hatten, in der internationalen Isolation zu verharren.
Die Deutschen und die Russen erlebten damals bei weitem nicht ihre beste Zeit auf dem internationalen Parkett. Erstere waren zu den Hauptschuldigen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärt worden und litten unter der Last der übermäßigen Reparationszahlungen, letztere waren praktisch vom Rest der Welt abgeschnitten, und der neu gegründete sozialistische „Arbeiter- und Bauernstaat“ war bisher weltweit nur von drei Ländern anerkannt worden: Afghanistan, Estland und Lettland.
Die Entente-Mächte waren davon überzeugt, dass Deutschland und Russland vollständig unter ihrer Kontrolle seien und dass Paris und London den Ausweg aus dieser schwierigen Situation diktieren würden. Die Annäherung der beiden ideologisch sehr weit voneinander entfernten Paria-Staaten, die bis vor kurzem noch Feinde auf dem Schlachtfeld gewesen waren, war nicht erwartet worden.
Auf der Suche nach einem Verbündeten
Der Weg nach Rapallo begann für die beiden Länder unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Obwohl sie keine formellen diplomatischen Beziehungen miteinander unterhielten, unternahmen beide Seiten dennoch kleine Schritte, um wirtschaftlich und politisch zu kooperieren.
„Das Versailler Diktat kann nur durch einen engen Kontakt mit einem starken Russland durchbrochen werden“, argumentierte Reichswehr-Oberbefehlshaber General Hans von Sekt: „Ob uns das kommunistische Russland gefällt oder nicht, ist unerheblich. Was wir brauchen, ist ein starkes Russland mit weiten Grenzen – an unserer Seite ... Für Deutschland ist es wichtig, die Bande der Entente mithilfe von Sowjetrussland zu lösen.“
Moskau seinerseits suchte nach Gemeinsamkeiten mit Berlin, um die internationale Isolation zu durchbrechen und eine Bresche in die geeinte westliche antisowjetische Front zu schlagen.
Diplomatischer Stillstand
Der historische Vertrag wurde während der Internationalen Konferenz von Genua unterzeichnet, zu der Vertreter der bolschewistischen Regierung von den Briten und Franzosen eingeladen worden waren. Als offizielles Ziel der Veranstaltung, an der fast dreißig Staaten teilnahmen, wurde „die endgültige Wiederherstellung des europäischen Friedens“ proklamiert.
Voller Hoffnung reiste eine sowjetische Delegation unter der Leitung des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Tschitschérin, im Frühjahr 1922 nach Norditalien. Damit Sowjetrussland jedoch in die Familie der europäischen Nationen zurückkehren konnte, musste es alle Schulden der zaristischen und der provisorischen Regierung begleichen, die ehemaligen ausländischen Eigentümern für ihr verstaatlichtes Eigentum entschädigen, das Land für ausländisches Kapital öffnen und aufhören, die Weltrevolution zu propagieren.
Die sowjetische Delegation ihrerseits erklärte, sie sei bereit, Fragen der Entschädigung zu prüfen, jedoch erst, nachdem die Entente das Land für die während der Intervention entstandenen Schäden in Höhe von mehreren Millionen Dollar vollständig entschädigt habe. Da die Briten und Franzosen zu diesem Schritt nicht bereit waren, gerieten die Verhandlungen in eine Sackgasse.
Die Russen beschlossen daraufhin, mit den Deutschen zu verhandeln. Auch die Deutschen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits erkannt, dass diese Konferenz keine Erleichterung ihrer prekären wirtschaftlichen Lage bringen würde.
Neubeginn
Am fünften Tag der Konferenz von Genua forderten die Sowjets die deutsche Delegation unter der Leitung des Außenministers der Weimarer Republik, Walter Rathenau, auf, eine neue Seite in den bilateralen Beziehungen aufzuschlagen, indem sie unverzüglich die diplomatischen Beziehungen wiederherstellten und auf die durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution verursachten finanziellen Verluste verzichteten. Die Deutschen sollten die Verstaatlichung ihres Privateigentums in Russland anerkennen; die Russen sollten auf auf Kriegsreparationen verzichten.
Die deutsche Delegation diskutierte die ganze Nacht über die sowjetischen Vorschläge. Die Weimarer Republik konnte das erste gleichberechtigte Abkommen seit dem demütigenden Versailler Vertrag abschließen und zwar mit der wichtigsten Macht im Osten Europas. Gleichzeitig befürchteten die Deutschen eine harte Reaktion der Briten und Franzosen.
Nach der „Pyjamakonferenz“, wie diese Nacht im Westen genannt wurde, beschloss Rathenau, einen Vertrag mit den Bolschewiki zu schließen, der am 16. April in der kleinen Stadt Rapallo bei Genua unterzeichnet wurde. Die Parteien vereinbarten unter anderem eine langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit und bekundeten auch informell ihre Bereitschaft, unter Umgehung der von den Alliierten auferlegten Beschränkungen militärische Beziehungen aufzunehmen.
„Der Vertrag von Rapallo von 1922 war das Ergebnis eines langen und schwierigen Kampfes um das Recht auf unabhängige und separate wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland außerhalb der verbindlichen internationalen kapitalistischen Front, die für Russland eine Art Falle darstellte“, schrieb Georgij Tschitschérin in seinem Artikel Fünf Jahre rote Diplomatie.
Schock
Der deutsch-russische Vertrag schlug wie eine Bombe ein. Die Entente verlor mit einem Schlag eines ihrer wichtigsten Druckmittel gegenüber Sowjetrussland. „Das wird die Welt erschüttern! Das ist der größte Schlag für die Konferenz“, sagte der amerikanische Botschafter in Italien, Richard Child, der als Beobachter in Genua anwesend war.
Rathenau wurde sofort von den Briten und Franzosen unter Druck gesetzt, das Abkommen aufzukündigen. Deprimiert suchte er sogar Tschitschérin auf, der ihm jedoch mitteilte, dass dies nicht mehr möglich sei.
Unter den europäischen Diplomaten wurden Rufe nach einem sofortigen Ende der Konferenz laut, doch diese Idee wurde schweren Herzens aufgegeben. Auf die eine oder andere Weise musste eine Einigung mit dem Koloss im Osten erzielt werden.
Sowohl in Moskau als auch in Berlin zeigte man sich erfreut über das Abkommen, das den ersten großen Schritt in der langfristigen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern darstellt. Mit der raschen Zunahme des Handels begann auch die militärische Zusammenarbeit: Bald wurde ein Junkers-Werk in der Sowjetunion eröffnet und die Flug- und Panzerschulen der Reichswehr nahmen ihren Betrieb auf. Als jedoch die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht kamen, wurden alle derartigen gemeinsamen Projekte von sowjetischer Seite sofort gestoppt.