„Sixtinische Madonna“ und Co.: Warum die Sammlung der Galerie Alte Meister nach Dresden zurückkehrte

Russia Beyond (Public Domain, Elisaveta Mikulina / Sputnik, Valentin Cheredintsev / TASS)
Am 2. Mai 1955 eröffnete das Puschkin-Museum in Moskau eine Ausstellung von Meisterwerken der Dresdner Galerie, die nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands ausgelagert und im Museum restauriert worden waren. Warum hat das sowjetische Volk die „Sixtinische Madonna“ und andere Gemälde erst zehn Jahre nach Kriegsende gesehen?

In der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 fand einer der verheerendsten Luftangriffe auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg statt. 773 britische Bomber warfen in zwei Angriffswellen eine große Zahl Bomben auf Dresden mit seinen rund 630.000 Einwohnern ab. Auf den britischen Nachtangriff auf die unverteidigte Stadt folgte die Bombardierung durch 311 amerikanische Bomber. Nach diesen Luftangriffen lagen viele Gebäude der Kunstsammlungen, darunter auch der Zwinger, in Trümmern. Und die dort gelagerten Kunstgegenstände waren für immer verloren.

Dresden im Februar 1945.

Einem großen Teil der Exponate gelang es jedoch, den Krieg außerhalb Dresdens zu „überleben“. Die Auslagerung der Museumsschätze begann 1938 und war 1943 weitgehend abgeschlossen. So wurden die Kunstwerke an sichere Orte gebracht.  

Hans Posse, der seit 1910 Direktor der Dresdner Galerie war, übernahm 1939 auch die Leitung des geplanten „Führermuseums“ in Linz. Dresden wurde so zu einer Drehscheibe im Kunstverschiebesystem der Nazis.

„Operation Linz“

Hitler verbrachte seine Kindheit in Linz, einer österreichischen Stadt an der Donau. Hierher kehrte er nach dem Anschluss Österreichs 1938 triumphierend zurück. An diesem Ort wollte der gescheiterte Künstler Hitler ein Supermuseum errichten. Er leitete persönlich das ganze Projekt für die geplante größte Kunstsammlung der Geschichte. Diese ehrgeizige Operation wurde als „Sonderauftrag Linz“ oder das „Linzer Führermuseum“ bezeichnet.  

Hitler wollte Linz nicht nur zur Kulturhauptstadt des nationalsozialistischen Deutschlands, sondern der ganzen Welt verwandeln. Es sollte eine vorbildliche „Stadt der Künste“ werden, mit einem Opernhaus, einer Bibliothek und einem Kino sowie einer Kunstgalerie, einer Skulpturensammlung und vielem mehr. Tatsächlich nahm dieses ehrgeizige Projekt im Leben des Führers einen so besonderen Platz ein, dass sein Architekturmodell bis zu seinem Selbstmord am 30. April 1945 in Hitlers Bunker stand. 

Adolf Hitler mit einem Architekturmodell der Stadt Linz, Berlin, März 1945.

Die Sammlung wurde von dem bereits erwähnten Direktor der Kunstgeschichte, Hans Posse, einem der besten Spezialisten des Landes, zusammengestellt. Aber nach welcher Methode wurden die Kunstwerke für das künftige Führermuseum ausgewählt? Die Staatssammlungen jener Länder, die nach Hitlers Meinung zur „westlichen Zivilisation“ gehörten, ließ er unangetastet. Einige Werke wurden für das Museum in Linz angekauft. Dies war bei den Zeichnungen aus der Sammlung Alter Meister des deutsch-niederländischen Bankiers Franz Königs der Fall (einige dieser für Hitler erworbenen Zeichnungen befinden sich heute im Staatlichen Puschkin-Museum für Schöne Künste in Moskau). Die meisten Kunstwerken wurden jedoch bei „Feinden der Nation“ und „minderwertigen Völkern“ beschlagnahmt.

Ein historisches Foto zeigt Hans Posse (links) und Adolf Hitler (in der Mitte) in der Dresdner Gemäldegalerie am 18. Juni 1938.

Während des Krieges wurden die für das Führermuseum ausgewählten Gemälde - darunter Raffaels „Sixtinische Madonna“, Tizians „Bildnis einer Dame in Weiß“, Werke von Veronese, Dürer, Rembrandt, Holbein, Cranach und anderen -  zusammengepackt und westlich der Elbe versteckt.

Die Entdeckung von Meisterwerken

Im Mai 1945 entdeckte eine Gruppe von Forschern unter der Leitung des sowjetischen Leutnants Leonid Rabinowitsch in einem Steinbruch bei Großcotta ein Versteck mit Gemälden aus der Dresdner Galerie, unter anderem auch Raffaels „Sixtinische Madonna“. 

Die Gemälde aus diesem und anderen Verstecken wurden in die Sommerresidenz der sächsischen Kurfürsten in Pillnitz gebracht, wo ein spezielles Trophäen-Komitee diese Gemälde auf Schäden untersuchte und sie für den Weitertransport in die UdSSR vorbereitete. 

Ruinen der berühmten Dresdner Gemäldegalerie, 1945

Nach dem Krieg, im Jahr 1956, veröffentlichte Rabinowitsch (unter dem literarischen Pseudonym Wolynski) die fiktionalisierten Memoiren „Sieben Tage“, die der Schatzsuche in Dresden gewidmet waren. Der Autor erinnerte sich an die Entdeckung der Sistina und beschrieb auf künstlerische Weise die besondere Haltung der Soldaten seines Bataillons ihr gegenüber: „(...) Wie kommt es, dass kunstunkundige Menschen (...), die dem Gesehenen scheinbar gleichgültig gegenüberstanden, herantraten und lange davor standen, um sich dann schweigend auf Zehenspitzen zu entfernen?“

Am 11. August 1945 gelangte die „Sixtinische Madonna“ zusammen mit anderen Gemälden aus der Sammlung der Dresdner Galerie nach Moskau in das Staatliche Puschkin-Museum der Schönen Künste, wo unter der Leitung von Pawel Korin mit der Restaurierung der in den überfluteten Verstecken gefundenen Werke begonnen wurde.

„Streng geheim“

Ursprünglich hatte die sowjetische Führung keine Absicht, die Gemälde an Deutschland zurückzugeben, sondern plante, die Sammlung Alter Meister in der Sammlung des Puschkin-Museums in Moskau auf ihre Kosten zu erweitern. Der bekannte sowjetische Kunsthistoriker Andrej Tschegodajew, damals Kurator des Trophäenfonds des Museums, hat einzigartige Erinnerungen an die ausgelagerte Galerie hinterlassen: „Mir wurde befohlen (...), alle Bilder der (Dresdner - Anm. d. Red.) Gemäldegalerie im Museum aufzuhängen und unsere Bilder mit den Dresdner Gemälden zu vermischen. Es war nie die Rede davon, die Dresdner Galerie zu ‚retten‘. Sie wurde als Trophäe betrachtet.“ 

Aber als die Bilder aufgehängt worden waren, verbot jemand von den höheren Behörden, die Bilder in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die aus Deutschland mitgebrachten Bilder mussten in zwei Sälen untergebracht werden, zu denen der Zugang nur mit Genehmigung des Museumsdirektors und nur für die Elite möglich war. Und Tschegodajew wurde zum Hauptkurator dieses „Sonderfonds“ ernannt. „(...) Mehrere Jahre lang zeigte ich die Dresdner Gemälde täglich angesehenen Besuchern: Mitgliedern des Politbüros, Marschällen, Generälen, bedeutenden Wissenschaftlern, Schriftstellern, Künstlern, Schauspielern, Musikern (...)“, erinnerte sich der Kunsthistoriker.

Pawel Korin, Praskowja Korina und Andrej Tschegodajew vor einem Raphael-Gemälde im Puschkin-Museum.

Die Gemälde der Dresdner Galerie erwiesen sich später als unzugänglich für das Publikum. Tschegodajew erinnerte auch daran, dass Stalin Ende der 1940er Jahre einen Erlass unterzeichnete, der den Zugang zur Dresdner Galerie verbot. Und nur Museumsdirektor Sergej Merkurow, Andrej Tschegodajew als Kurator des „Sonderfonds“ und die Restauratoren hatten das Recht, die Säle zu betreten, in denen die Kunstwerke aufbewahrt wurden. „Der Dresdner Galerie wurde der Status ‚streng geheim‘ verliehen, damit niemand auch nur ahnen konnte, dass sie sich noch im Museum befand“, schrieb er.

Und 1955, zehn Jahre nachdem die Sammlung in die Sowjetunion gebracht worden war, beschloss die sowjetische Führung, die reiche Sammlung an die DDR zu übergeben. Aus politischer Sicht war die Frage jedoch nicht einfach. Daher wurde sie von der höchsten Führung des Landes - dem Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - geprüft. In einem Vermerk an das Präsidium vom 3. März 1955 sprach Außenminister Wjatscheslaw Molotow die Frage der Bilder der Dresdner Galerie an

Raffaels „Sixtinische Madonna“ in der Ausstellung „Meisterwerke der Dresdner Gemäldegalerie“ im Staatlichen Puschkin-Museum für Schöne Künste, 1955.

„Die derzeitige Situation der Dresdner Gemäldegalerie ist nicht normal. In dieser Angelegenheit können zwei Lösungen vorgeschlagen werden: entweder zu erklären, dass die Gemälde als Trophäen dem sowjetischen Volk gehören und sie dem breiten Publikum zugänglich zu machen oder sie dem deutschen Volk als sein nationales Eigentum zurückzugeben. In der vorliegenden Situation scheint die zweite Lösung richtiger zu sein. Die Übergabe der Gemälde der Dresdner Galerie wird zur weiteren Festigung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem sowjetischen und dem deutschen Volk beitragen und gleichzeitig die politische Position der Deutschen Demokratischen Republik stärken.“

Infolgedessen wurde die zweite Variante umgesetzt, die den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion zu jener Zeit entsprach.

Sowjetische Geschichte der Sistina

Vor ihrer Rückkehr wurden die Gemälde der sowjetischen Öffentlichkeit gezeigt: Die Ausstellung wurden kurz vor dem Tag des Sieges, am 2. Mai 1955, eröffnet und rief in den Herzen der Überlebenden der Tragödie des Zweiten Weltkriegs eine tiefe und aufrichtige Reaktion hervor. „Jeden Tag kommen Tausende von Besuchern hierher. Die Menschen kommen aus anderen Städten, um die Gemälde von Tizian, Rembrandt, Dürer und Vermeer zu sehen, die sie vorher nur von Reproduktionen kannten. Um Raffaels unsterbliche Sixtinische Madonna stehen die Leute lange herum“, so die Zeitschrift „Ogonjok“ in einem Bericht über die Ausstellung. 

Museumsfassade während der Ausstellung.

Für die Mitarbeiter des Museums, die die schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahre überlebt hatten, war die Ausstellung eine große Herausforderung. Während der zehn Jahre, die die Gemälde im Museum verbracht hatten, restaurierten sowjetische Spezialisten sie und untersuchten sie umfassend. Dies ermöglichte es, in kurzer Zeit (dreieinhalb Wochen) ein Ausstellungskonzept zu entwickeln, einen Katalog und einen Flyer zu erstellen sowie Führungen und Gastvorträge zur Ausstellung vorzubereiten. Vierzehn Räume mussten geräumt werden, um die Dresdner Gemälde ausstellen zu können (mehr als 2.500 Werke wurden aus der Hauptsammlung in den Fundus gebracht). 

Das Museum arbeitete 12 bis 14 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, bis die Ausstellung geschlossen wurde. Die Menschen kamen von nah und fern, und zum ersten Mal standen die Besucher stundenlang vor dem Gebäude in der Wolchonka-Straße Schlange. Es gab 2.000 Führungen und mehr als 1.000 Vorträge. In vier Monaten wurde die Ausstellung von 1,2 Millionen Menschen besucht.

Die Ausstellung von Gemälden der Dresdner Galerie im Puschkin-Museum, Juli 1955.

Leonid Rabinowitsch, der das Gemälde entdeckt hatte, sah es in der Ausstellung wieder: „Zehn Jahre später ging ich die Marmortreppe des Moskauer Museums hinauf und näherte mich dem Gemälde mit einem vor Ungeduld schlagenden Herzen, so wie man nach einer langen Trennung zu einem geliebten und nahestehenden Menschen geht.“

Der bereits erwähnte Maler und Restaurator Pawel Korin, der an der Restaurierung der Gemälde beteiligt war, sah die „Sixtinische Madonna“ zum ersten Mal im Jahr 1932. Zusammen mit seinem Bruder Alexander hatte er eine Lehre in Italien absolviert und war auf der Durchreise nach Dresden. In seinem Notizbuch hielt er seinen Eindruck von dem, was er sah, schnell fest und gab das genaue Datum an: der 22. Juni 1932. Der zukünftige Restaurator konnte sich damals nicht vorstellen, wo und unter welchen Umständen er dieses Meisterwerk von Raffael wiedersehen würde.

Nach der Übergabe des Gemäldes von  Jan Vermeer „Beim Zuhälter“, DDR.

Die Ausstellung von 1955 weckte das Interesse an dem Bild der „Sixtinischen Madonna“ in der sowjetischen Kultur. So schufen Maler Gemälde im Stil des sozialistischen Realismus, die der Entdeckung des Meisterwerks gewidmet waren. Michail Wolodins „Rettung von Gemälden der Dresdner Galerie“ (1972-1978) zum Beispiel zeigt sowjetische Soldaten, die das Gemälde auf ihren Armen aus dem Gebäude heraustragen. Und Michail Kornezky wählte in „Gerettete Madonna“ den Moment, in dem eine junge Restauratorin die Farbschicht des Gemäldes durch ein Vergrößerungsglas begutachtet. 

Albrecht Dürers „Bildnis eines jungen Mannes“, 1521

Am 25. August 1955 wurde die Ausstellung geschlossen und das Übergabeprotokoll für das erste Gemälde, Albrecht Dürers „Bildnis eines jungen Mannes“, unterzeichnet. Insgesamt 1.240 restaurierte Gemälde und 1.571.995 Exponate aus dem Berliner Pergamonmuseum und der Sammlung des Dresdner Grünen Gewölbes wurden von der Sowjetunion an das deutsche Volk übergeben.

>>> Die sixtinische Madonna und andere Kunstwerke, die als Kriegstrophäen in die UdSSR kamen

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