Method Acting war ursprünglich eine russische Erfindung

Kira Lisitskaja (Foto: Bettmann, Ullstein bild/Getty Images; Legion Media)
Die Schauspiellehre von Konstantin Stanislawski hatte einen großen Einfluss auf Hollywood. Viele Filmstars arbeiten gerne mit dem „Method Acting“.

Wenn sie eine neue Rolle annehmen, machen Schauspieler heutzutage oft unglaubliche Verwandlungen durch. Zur Vorbereitung auf die Hauptrolle im Film „Tootsie“ (1982), trug Dustin Hoffman im wirklichen Leben eine Perücke, enge Röcke und hohe Absätze. Robert De Niro arbeitete als Taxifahrer in New York um Travis Bickle, den Protagonisten des Films „Taxi Driver“ glaubwürdig verkörpern zu können. Jack Nicholson erinnerte sich für „The Shining“ (1980) an die Auseinandersetzungen mit seiner Ex-Frau, so dass er wütend wurde. Diese Methode, bei der ein Schauspieler dasselbe erlebt wie seine Figur, war ursprünglich eine Idee des russischen Theaterregisseurs Konstantin Stanislawski im 19. Jahrhundert und wurde später für das Kino adaptiert. Heute wird dieses System in verschiedenen Variationen immer noch in Schauspielschulen von New York bis Hollywood gelehrt. 

Was ist Stanislawskis System? 

Konstantin Stanislawski (1863-1938), russischer Schauspieler und Produzent; Mitbegründer und Leiter des Moskauer Kunsttheaters.

Der Schauspieler und Regisseur Konstantin Stanislawski ist der Vater der gesamten modernen Schauspiellehre in Russland. Zusammen mit dem Regisseur Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko gründete Stanislawski 1898 das Moskauer Kunsttheater, wo er sein System jahrzehntelang erfolgreich anwendete und weiterentwickelte. Er war fortschrittlich und rebellisch und widersetzte sich bisherigen Dogmen.  Er beschrieb seine Methode 1938 in einem Buch. 

Sein System basiert auf den folgenden Prinzipien: 

1 - Wahrheit der Erfahrung (der Schauspieler sollte wahrheitsgemäße Gefühle erleben). 

2 - Arbeit mit den Umständen (der Schauspieler sollte den Lebensstil der Figur studieren). 

3 - Spielen im „Hier und Jetzt“ (jede Handlung wird auf der Bühne geboren). 

4 - Der Schauspieler sollte sich ständig verbessern. 

5 - Der Schauspieler sollte mit seinen Kollegen auf der Bühne interagieren. 

Kurz gesagt, ein Schauspieler sollte seine Rolle leben. 

Wie gelangte Stanislawskis System in die USA?

Richard Boleslawski.

In den Jahren 1923-1924 ging das Moskauer Kunsttheater auf eine Tournee durch die Vereinigten Staaten. Die Organisatoren starteten eine unglaubliche PR-Kampagne: In den Medien erschienen Artikel über das russische Theater und das Genie von Stanislawski, eine Reihe von Vorträgen über die Kunst des Schauspiels, geleitet von Stanislawski und dem MAT-Emigranten Richard Boleslawski. Das Interesse der Amerikaner am russischen System war so groß, dass Boleslawski zusammen mit seiner Kollegin Maria Ouspenskaja 1923 die  amerikanische Schauspielschule „Theatre“ eröffnete. Zu den Schülern dort gehörten Lee Strasberg und Stella Adler, die später das „Group Theatre“ und später eigene Schulen  gründeten. 

Lee Strasberg (1901-1982) unterrichtet mit Studenten im Hörsaal im Hintergrund, im Actors Studio, um 1955.

Strasberg vs. Adler 

Strasberg besuchte die Aufführungen des Moskauer Künstlertheaters und war erstaunt über die schauspielerischen Leistungen; das Verhalten der Künstler wirkte nach seiner Überzeugung echt und mühelos. Bei seiner Arbeit am „Group Theatre“ entwickelte Strasberg dieses System als Reaktion auf die amerikanischen kulturellen Normen. Sein Grundprinzip war die Verwendung des „affektiven Gedächtnisses“, was bedeutete, dass ein Schauspieler ein einzelnes Ereignis aus seiner Vergangenheit nacherleben sollte, um glaubwürdige  Gefühle in einer Szene zu verwenden. Strasberg wandte seine Methode nicht nur am „Group Theatre“ an, sondern auch, als er in den 1950er Jahren das „Actors Studio“ in New York leitete. Jack Nicholson, Robert De Niro, Marlon Brando, Dustin Hoffman und viele andere schlossen ihre Ausbildung an seiner Schule ab. In Hollywood gründete er außerdem das „Lee Strasberg Theatre & Film Institute" und nannte sein System „The Method Acting". 

Marilyn Monroe mit ihrer Schauspiellehrerin Paula Strasberg, 1960. Paula ist die Frau von Lee Strasberg.

Stella Adler war jedoch mit Strasberg in Bezug auf die eigentliche Methodik des Schauspiels nicht einverstanden und beschloss, Konstantin Stanislawski persönlich zu kontaktieren. Sie wurde seine einzige amerikanische Schülerin. 1934 verbrachte Adler fünf Wochen zur Ausbildung bei Stanislawski in Paris und gründete später das „Stella Adler Studio of Acting“. Zu ihren Schülern gehörten Mark Ruffalo, Judy Garland, Elisabeth Taylor und Melanie Griffith. 

Stella Adler bei Macy's in New York City, 1978.

Darüber hinaus gab es in den USA weitere Interpreten von Stanislawskis Methoden, wie den Schauspieler des Moskauer Künstlertheaters Michail Tschechow (Neffe von Anton Tschechow), der 1939 das „Actors Laboratory“ gründete. Er entdeckte Talente wie Marilyn Monroe und Clint Eastwood.

Den Schmerz in Kunst verwandeln

Hollywood-Schauspieler arbeiten heute ständig mit dem System von Stanislawski, den Methoden von Strasberg und der Technik von Adler und passten sie im Laufe der Zeit an. Einer von ihnen ist Jack Nicholson, der „in jenen mageren Jahren stundenlang in den Kaffeehäusern von Los Angeles saß und mit ähnlich gesinnten Filmtheoretikern über Stanislawskis Metaphysik diskutierte“. Seine Emotionen in Stanley Kubricks „The Shining“ (1980) waren echt: „Die Szene an der Schreibmaschine - so war ich, als ich mich scheiden ließ.“ Während der Vorbereitungen zu „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1975) sprach er mit den Patienten einer psychiatrischen Klinik.  

Al Pacino wurde als Teenager in das System von Stanislawski eingeführt und fand es dann... langweilig. „Was weiß ein dreizehn-, vierzehnjähriger Junge schon von Stanislawski?“, sagte er später. „Ich wusste nur, dass man singt, tanzt, Spaß hat und imitiert. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich gebraucht habe, um das zu überwinden.“ Heute ist Al Pacino gemeinsam mit Ellen Burstyn und Alec Baldwin Co-Präsident des „Actors Studio“. 

Robert De Niro lernte das System von Stanislawski sowohl bei Stella Adler als auch bei Lee Strasberg und bereitete sich in unglaublicher Weise auf seine Rollen vor. Für „Wie ein wilder Stier“ (1983) nahm De Niro selbst an drei Kämpfen im Ring teil und nahm über 20 Kilogramm zu.  Für „Taxi Driver“ machte er den Personenbeförderungsschein und arbeitete zwei Wochen lang in Zwölf-Stunden-Schichten als Taxifahrer in New York.  Für „Kap der Angst“, fragte er einen Zahnarzt, ob dieser ihm die Zähne abschleifen würde. 

Auch Nicolas Cage hat im Laufe seiner Karriere das Stanislawski-System neu erfunden. „Stanislawski sagte, das Schlimmste, was ein Schauspieler tun kann, ist zu imitieren. Da ich ein kleiner Rebell bin, wollte ich diese Regel brechen. So versuchte ich einen Warhol-ähnlichen Ansatz für die Figur des Sailor Ripley in ‚Wild at Heart‘ (1990). In Filmen wie ‚Prisoners of the Ghost Land‘ (2021) oder auch ‚Face/Off‘ (1997) oder ‚Vampire's Kiss – Ein beißendes Vergnügen‘ (1988) experimentierte ich mit dem, was ich als westliches Kabuki oder einen eher barocken oder opernhaften Stil der Filmdarstellung bezeichnen würde. Ich wollte sozusagen aus dem Naturalismus ausbrechen und eine größere Art der Performance zum Ausdruck bringen."

Letztendlich beeinflusste das System nicht nur die Filmindustrie, sondern auch die Schauspieler selbst. Wie Dustin Hoffman einmal sagte, wurde sein feministisches Bewusstsein erst durch die Rolle als „Tootsie“ geweckt: Als er sich auf die Rolle vorbereitete, trug er Absätze und Frauenkleider und lief inkognito durch New York. Und dann merkte er, dass er als durchschnittlich aussehende Frau ignoriert wurde, was ihm bewusst machte, wie viele Frauen er ebenfalls nicht beachtete, weil sie nicht dem Schönheitsideal der Gesellschaft entsprachen.

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