„Wie riesige Kerzen brannten die Bäume, kirschrote Waggons qualmten entlang des Bahndamms. Ein einziger unerträglicher Schrei des Schmerzes und des Schreckens von Hunderten von sterbenden und brennenden Menschen war zu hören. Der Wald stand in Flammen, die Eisenbahnschwellen standen in Flammen, die Menschen standen in Flammen. Wir beeilten uns, die herumirrenden ,lebenden Fackeln‛ einzusammeln, sie aus dem Feuer zu holen und sie näher an die Straße zu bringen, weg von den Flammen. Es war eine Apokalypse...“. So beschrieb Walerij Michejew, Herausgeber der Zeitung Stalnája ískra (dt.: Stahlfunken), die Folgen der schrecklichen Eisenbahnkatastrophe vom 4. Juni 1989 auf dem Abschnitt der Transsibirischen Eisenbahn in der Baschkirischen ASSR (1.500 Kilometer östlich von Moskau).
Die Ursache der Tragödie war eine Beschädigung der Gasleitung in der Nähe der Bahngleise, in deren Folge sich das Gas in einer unbewohnten Senke rasch zu sammeln begann. Kurz nach 1:00 Uhr in der Nacht fuhren zwei Personenzüge in entgegengesetzter Richtung durch dieses „Gas-Tal“. Ein Funke oder eine heruntergefallene Zigarette reichte aus, um alles in eine Hölle zu verwandeln.
Die Stärke der Explosion war fast vergleichbar mit der Detonation der Atombombe in Hiroshima (12 Kilotonnen TNT gegenüber 16 Kilotonnen TNT). Die Flammensäule war noch in mehr als 100 km Entfernung zu sehen und die Druckwelle zerschlug die Fensterscheiben von Häusern in der 11 km entfernten Stadt Ascha. In der Senke selbst herrschte ein völlige Chaos: Die Temperatur erreichte kurzzeitig tausend Grad, das Feuer verschlang 150 Hektar Wald, 350 Meter Bahngleise wurden verbogen, einige Waggons mit den darin schlafenden Menschen wurden aus den Zügen geschleudert und über über die Böschung verstreut, andere, die auf den Gleisen verblieben, verbrannten vollständig.
„Ich wachte auf, weil ich aus dem oberen Bett zu Boden gefallen war – und alles um mich herum stand bereits in Flammen“, erinnerte sich Natalja K. aus Adler: „Ich dachte, ich hätte einen Albtraum: Die Haut an meinem Arm brannte, ein in Flammen stehendes Kind kroch unter meinen Füßen, ein Soldat mit leeren Augen kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu, ich kroch an einer Frau vorbei, die ihre eigenen brennenden Haare nicht löschen konnte, und in dem Abteil gab es weder Betten, noch Türen, noch Fenster.“
Die fünfjährige Tanja Sopilnjak war mit ihren Brüdern und Eltern auf dem Weg von Sibirien in den Urlaub an der Schwarzmeerküste: „Der Waggon brannte innerhalb von drei Minuten aus... Die Türgriffe wurden heiß und klemmten. Meine Mutter zog sich Verbrennungen zu, weil sie sich an den Griffen festgehalten hatte – das war eine Sache von Sekunden. Wir konnten das Fenster nicht einschlagen. Dann zerbarst das Fenster durch die Hitze und wir stecken die Köpfe heraus, um Luft zu bekommen... Die Leute schrien und brüllten, dann verstummten sie. Sie verstummten, weil sie starben. Wir waren kaum draußen, als es zu einer zweiten Explosion kam und unser Waggon detonierte.“
Als die Behörden erkannten, welch gewaltige Katastrophe sich ereignet hatte, eilten sofort alle verfügbaren Feuerwehrleute, Sanitäter und Soldaten der Region in das Katastrophengebiet. „Was wir dort sahen, glich den Folgen einer Atomexplosion. Du berührst ein Blatt an einem Baum und es zerbröselt in deinen Händen. Dort sah ich zum ersten Mal Eisen brennen und Aluminium tropfen“, erinnerte sich Radik Sinatullin, Arzt eines Krankenhauses in Ufa. Unter Schock stehenede Menschen mit schweren Verbrennungen der Atemwege, der Beine, des Gesichts und des Oberkörpers wurden mit Bussen, Lastwagen und Hubschraubern in Krankenhäuser geflogen. Viele von ihnen wurden zwar noch lebend in den Operationssaal gebracht, starben aber bald darauf.
Den Soldaten, die vor Ort im Einsatz waren, wurde Alkohol verabreicht – sie zitterten förmlich und ihnen wurde übel, als sie die Berge aus verkohlten Körpern und Eisenteilen wegräumten. Schon bald trafen die Angehörigen der Toten am Ort des Geschehens ein, fassungslos über die Tragödie, verzweifelt auf der Suche nach ihren unter den Trümmern liegenden Angehörigen. Diese waren nicht immer zu identifizieren, da einige der Opfer keinen Kopf mehr hatten.
Der Arzt Viktor Smolnikow erinnerte sich an eine herzzerreißende Szene, die er in einem Krankenhaus in Ufa erlebte: „Das brannte sich mir ins Gedächtnis ein: Da liegt ein Junge, von Kopf bis Fuß in Verbänden. Zwei Frauen betreten den Raum – beide behaupten, er sei ihr Sohn. Das Kind öffnet die Augen, sieht eine von ihnen an, streckt die Hand aus und sagt ,Mami, Mami‛. Die zweite bricht in Tränen aus – ihr Kind war verbrannt....“
Die schreckliche Tragödie wurde durch eine Kombination aus Fahrlässigkeit und einem schicksalhaften Zufall verursacht. Die Gasleitung wurde bereits bei ihrer Verlegung im Jahr 1985 durch einen Bagger beschädigt. Vier Jahre später hatte das Leck eine Breite von 1,7 m erreicht. Am Vorabend der Explosion hatte das Betriebspersonal einen Druckabfall in der Pipeline festgestellt, aber anstatt nach der Ursache des Problems zu suchen, erhöhte es einfach die Gaszufuhr, was die Situation noch verschlimmerte. Auch Meldungen von Fahrern vorbeifahrender Züge, dass sie in dem niedrig gelegenen Gebiet einen starken Gasgeruch wahrgenommen hatten, blieben unbeachtet. Und eigentlich sollten die beiden Züge nicht gleichzeitig diesen Abschnitt passieren, aber einer von ihnen hatte große Verspätung, weil eine schwangere Passagierin abgesetzt wurde, die dringend ins Krankenhaus musste.
Das Gerichtsverfahren dauerte bis 1995. Der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation verurteilte sieben Personen, die unmittelbar an der Verlegung der Gasleitung beteiligt waren und den von ihnen verursachten Schaden ignoriert hatten. Vier von ihnen wurden im Rahmen einer Amnestie anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg sofort freigelassen, einer wurde kurze Zeit später freigesprochen und nur zwei erhielten zwei Jahre Haft in einer Strafkolonie wegen fahrlässiger Tötung.
Nach offiziellen Angaben kamen bei dem Zugunglück in der Nähe von Ufa 575 der 1.284 Fahrgäste aus den beiden Zügen ums Leben, darunter 181 Kinder. Von der Jugend-Eishockey-Mannschaft Traktor-73, zweimaliger Meister der Sowjetunion, kam fast niemand mit dem Leben davon. Hunderte von Menschen überlebten zwar die Katastrophe, waren aber für immer behindert. „Bis heute kann ich die Hände nicht dem Sonnenlicht aussetzen“, sagt die Zugbegleiterin Valentina Dschondschua: „Wenn Sonnenlicht auf die Hände trifft, werden sie schwarz. Nicht rot, sondern schwarz. Aber ich bin am Leben.“
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