Die Geschichte Russlands in Liedern: Die größten Hits ihrer Zeit

Alexander Kislow
Vorrevolutionäre Märsche, ergreifende Romanzen, schrille Jingles und Gangsta-Rap. Diese Lieder sind nicht immer von Bedeutung für die Musikgeschichte des Landes. Aber sie sind sicherlich bedeutsam für die Beschreibung eines bestimmten Zeitabschnitts der Geschichte des Landes. Russia Beyond hat die Besten ausgewählt.

Vorrevolutionäre Lieder

Marsch des Preobraschenski-Regiments

Das Preobraschenski-Regiment wurde 1691 von Peter I. gegründet und noch zu Lebzeiten des Zaren hatte es seinen eigenen Marsch: Bekannt ist, dass er bei den Siegesfeiern im Großen Nordischen Krieg 1721 gespielt wurde. Später im 19. Jahrhundert wurde der Marsch zusammen mit einem Soldatenlied („Die Türken kennen uns und die Schweden...“) zur Verherrlichung der Taten des ersten Kaisers und seiner Truppen aufgeführt. Bis zum Erscheinen der Hymne des Russischen Reiches („Gott schütze den Zaren“) im Jahr 1833 galt der Preobraschenski-Marsch als die inoffizielle Hymne Russlands. Der Komponist ist unbekannt.

Kalinka“

„Kalinka“ ist keineswegs ein Volkslied. Es wurde von dem Komponisten und Dichter Iwan Larionow, der auch den Text verfasste, im volkstümlichen Stil geschrieben und im Rahmen einer Amateurvorstellung zu Hause aufgeführt. Der Sänger und Volksmusiksammler Dmitrij Agreniew-Slawjanskij machte das Lied bekannt. Im Jahr 1868 gründete er den Chor „Slawische Kapelle“, mit dem er in Russland und im Ausland auftrat und der „Kalinka“ in sein Repertoire aufnahm. Und so wurde das Lied berühmt.

„Schwarze Augen“

Der Text dieser so berühmten russischen Romanze wurde vom ukrainischen Dichter Jewgenij Grebenka zur Musik von Florian Hermann, einem Deutschen, der im Russischen Reich lebte, geschrieben. Otschi Tschernije (= schwarze Augen) wurde erstmals 1884 veröffentlicht und wurde durch Fjodor Tschaljapin berühmt, der es auf seinen Weltreisen aufführte. Tschaljapin fügte dem Text einige Verse hinzu, die er seiner zukünftigen Frau Iola Tornaga, einer Italienerin, widmete.

Sowjetische Lieder

„Murka“

Anfang des 20. Jahrhunderts, nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki, bildeten Lieder des Gaunertums einen wichtigen Teil der russischen Kultur. Warum dies der Fall war? Kunsthistoriker erklären das heute so: Die unausgesprochene bolschewistische Parole „Wer nichts war, wird alles“ und der Hass auf die Bourgeoisie standen der Einstellung des Gaunertums, das in jenen Jahren ebenfalls blühte, sehr nahe. „Murka“ ist eines der bekanntesten Kriminallieder, in dem es um Romantik in der Welt der Diebe geht. Natürlich mit einem ganz persönlichen Idealbild der Frau.

„Sinij platotschek“

Der Blaue-Taschentuch-Walzer erwähnt mit keinem Wort den Krieg; und doch ist er zu einem der berühmtesten Kriegslieder geworden. Er wurde 1940 vom Komponisten Jerzy Petersburski geschrieben und der Dichter und Dramatiker Jakow Halicki, der bei der Uraufführung anwesend war, verfasste den Text für den Walzer, der von einem Mädchen handelt, das sich von seinem Liebhaber verabschiedet. Nachdem das Lied von der großen sowjetischen Sängerin Lidia Ruslanowa gesungen wurde, wurde „Sini platotschek“ zu einem der größten sowjetischen Hits. Im darauf folgenden Jahr brach der Krieg aus und Ruslanowa wurde an die Front geschickt, wo sie mehrmals „Sini platotschek“  für die Soldaten der Roten Armee sang. „Schon in den ersten Tagen des Krieges zeigte sich, dass neben den harten Zeilen von ’Es kommt ein Volkskrieg, ein heiliger Krieg‘ die ruhigen lyrischen Worte des Liedes ’Sini platotschek‘ das Herz eines Soldaten wärmen“, erinnerte sich der Frontdichter Alexej Surkow. Zu dem Motiv des Blauen Taschentuchs dichtete der Dichter Boris Kowynew die Zeilen, die in der gesamten UdSSR berühmt wurden: „Am 22. Juni, Punkt 4 Uhr, wurde Kiew bombardiert; man sagte uns, dass der Krieg begonnen habe.“

„Der heilige Krieg“

Dieses Lied wurde zwei Tage nach Kriegsbeginn von dem berühmten Dichter Wassili Lebedew-Kumach geschrieben, dem der Stalinpreis verliehen wurde. Es wurde fünfmal hintereinander auf dem Belorusskij-Bahnhof in Moskau gesungen, bevor die Truppen an die Front geschickt wurden und dann aber bis Oktober 1941 kaum noch aufgeführt; man hielt es für zu tragisch. Die Zeilen des Liedes handelten nicht von einem schnellen Krieg, sondern von einer schweren, tödlichen Schlacht. Doch nach dem 15. Oktober, als die Wehrmacht Kaluga, Rschew und Kalinin eroberte, wurde klar, dass der Krieg zermürbend sein würde; so wie in dem Lied auch gesungen wird.

Damals wurde der „Der heilige Krieg“ so etwas wie eine inoffizielle Hymne: Es wurde jeden Morgen nach dem Läuten der Kremlglocke im nationalen Radio gespielt. „Wir kämpfen für Licht und Frieden, sie kämpfen für das Reich der Finsternis“ war wie eine Erinnerung an den Sinn dieses Kampfes.

„Katjuscha“

Ein weiteres russisches Lied mit einem „Volksmotiv“ ist „Katjuscha“. Es wurde kurz vor dem Großen Vaterländischen Krieg vom Komponisten Matwej Blanther auf einen Text von Michail Isakowski geschrieben und 1938 uraufgeführt. Aufgrund des Namens des Liedes nannten die sowjetischen Soldaten den berühmten Raketenwerfer, der in den ersten Jahren des Großen Vaterländischen Krieges in Dienst gestellt wurde, „Katjuscha”. Denn laut Liedtext wartet das Mädchen Katjuscha nur darauf, dass ihr Geliebter, der „an der fernen Grenze“ ist, aus dem Krieg nach Hause kommt.

„Hotschu peremen!“

Der Autor des Liedes, Viktor Tsoi, wollte keineswegs protestieren oder Politik machen, aber so wurde es interpretiert und ging in die Geschichte ein. Nachdem es am Ende des Films „Assa“ von Sergej Solowjow zu hören war, wurde es zu einem Hit und zum wichtigsten Lied zum Zeitpunkt der Perestroika. Offensichtlich, weil es sehr unverblümt die Forderung artikulierte, die in der Gesellschaft fast bis zum Ende der Sowjetunion schon lange reif war: „Und plötzlich haben wir Angst, etwas zu ändern“, heißt es in dem Lied als die Rede um den Hauptgrund, warum nie etwas passiert, geht. Das ganze Land fühlte hier mit.

Post-sowjetisch

„Buchhalter“

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rückte eine neue Figur in den Vordergrund der „volkstümlichen“ Bilderwelt: Der durchschnittliche Buchhalter. 1991 nahm eine weibliche Popband „Kombinazija“, die im Stil von ABBA sang, ein untypisches, „krasses“ Lied über einen gewöhnlichen Mann auf, der in einem verstaubten Büro arbeitet und immer noch nicht in der Lage ist, sein Soll und Haben auszugleichen. Dennoch zieht die weibliche Hauptfigur seines Liedes, genau diesen, dem „Ausländer“ und „Millionärssohn“ vor.

Das Lied wurde jahrelang zum Hit auf allen Betriebsfeiern, weil es auf subtile Weise verdeutlicht, wer in der postsowjetischen Ära nun das Leben im Griff hat. Früher war es irgendein Leiter der Wurstabteilung in der Gastronomie, der etwas mit Abrechnungen zu tun hatte und Fehlmengen unter dem Tisch verkaufen konnte, aber im neuen Russland war es zweifellos der Buchhalter. Eine Person, die es verstand, Lücken im Haushaltsbudget gekonnt zu verstecken, ohne die Aufmerksamkeit der Steuerbehörden zu erregen.

Natürlich hat nicht jeder Buchhalter in den 90er Jahren seine Position ausgenutzt und sich an kriminellen Machenschaften beteiligt. Aber ein ehrlicher und armer Buchhalter stellte ein nicht weniger eindrucksvolles Bild des neuen Landes dar: Das ist der „kleine Mann“, der Tag für Tag das große, aber fremde Geld zählt.

„Kombat“

Das Ljubeh-Ensemble nahm dieses Lied anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges im Vaterländischen Krieg 1995 auf. Eigentlich jedoch stand es im Zusammenhang mit dem Krieg, der zu damaligen Zeiten so richtig aufblühte; dem ersten Tschetschenienkrieg. Unter dem holprigen Refrain wird über den harten Alltag eines Bataillonskommandeurs gesungen, der jeden Tag riskiert, „seine Kugel“ zu bekommen, sich aber nie hinter dem Rücken von 18-jährigen Wehrpflichtigen versteckt.

Kombat war der Beginn von Ljubehs Ruhm, denn die Band wurde berühmt für ihre patriotischen Lieder und den lyrischen Helden, der immer bereit ist, sein Leben für sein Vaterland zu riskieren.

„Wladiwostok 2000“

Im Jahr 1998 erinnerten sich die Russen an eine schreckliche Wirtschaftskrise: Der Rubel stürzte ab und Tausende blieben ohne Arbeit und Lebensunterhalt zurück. Ein weiteres bahnbrechendes Ereignis in diesem Jahr war jedoch die Ankunft von MTV in Russland. Bevor der Sender auf Sendung ging, musste man auf dem Raubkopienmarkt nach seltenen ausländischen Liedern suchen. Man geht davon aus, dass Russland mit der Ankunft von MTV wirklich Teil der globalen Welt wurde: Die kulturelle Expansion entfaltete sich mit voller Kraft und MTV bildete eine ganze Subkultur um sich herum, die den Trend für das nächste Jahrzehnt diktierte.

„Wladiwostok 2000“ von Mumij Troll war der erste Videoclip, der im russischen MTV ausgestrahlt wurde. Das Lied handelt von einem der Postapokalypse-Szenarien, die für das Jahr 2000 erwartet wurden und welchem die Russen 1998 inmitten all der Umwälzungen doch so leicht Glauben schenken konnten.

„Ja soschla s uma“

Die Nullerjahre sind da. Es war an der Zeit, nach anderen Wegen zu suchen, andere Werte zu schaffen. Die Gruppe t.A.T.u., bestehend aus der 14-jährigen Julia Wolkowa und der 15-jährigen Elena Katina, hatte Ende der 2000er Jahre mit der Single „Ja soschla s uma („Ich habe den Verstand verloren“) einen großen Erfolg. Nach den Vorstellungen des Produzenten Ilja Schapowalow sollten die minderjährigen Mädchen zwei ineinander verliebte Schulmädchen darstellen. Der Text entsprach der Art und Weise, wie das LGBT-Thema damals in Russland behandelt wurde: „Ohne dich bin ich nicht ich, ohne dich, gibt es mich nicht / und sie sagen, sie sagen, ’Das ist Unsinn‘ <...> / Und sie sagen ’Wir müssen es dringend behandeln‘.“

Trotz der offensichtlichen Provokation am Rande der Legalität (vor allem im Vereinigten Königreich wurde der Produzent als Förderer von Pädophilie und aggressivem Queerbait kritisiert), wurde t.A.T.u. in Russland zu einer Pop-Ikone und zu einer der bekanntesten Bands außerhalb des Landes, einer Band mit weltweiter Popularität. Drei Jahre später traten sie mit „Don’t Believe, Don’t Be Afraid, Don’t Ask“ beim Eurovision Song Contest an und belegten den dritten Platz. Über ihren starken Einfluss auf die LGBT-Gemeinschaft sagte Katina später: „Wisst ihr, wie viele LGBT-Menschen Selbstmord begehen? Wie viele Menschen haben sich das Leben genommen, nur weil sie dachten, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Briefe wir von unterschiedlichen Menschen erhalten haben: ’Ihr habt mir das Leben gerettet! Vielen Dank!‘.“

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