Wie wurde die Nischnij-Nowgoroder Messe zum wichtigsten Handelsplatz Russlands?

Russia Beyond (Foto: Boris Kustodiev / Joseph Brodsky apartment museum; Alexei Trefilov (CC BY-SA 4.0), Arkady Shaykhet/MAMM/MDF)
St. Petersburg ist der Kopf Russlands, Moskau ist sein Herz und Nischni Nowgorod sein Geldbeutel. Vielleicht reicht dieses alte russische Sprichwort, um die Bedeutung und Wichtigkeit des Handels in Nischnij Nowgorod wiederzugeben.

Warum wurde Nischnij Nowgorod zu einem Zentrum des Handels?

Die Stadt liegt sehr günstig am Zusammenfluss der bedeutenden russischen Flüsse Wolga und Oka, die das ganz Land durchziehen und in das Kaspische Meer münden. Die Wolga war zudem die einzige Wasserstraße, die den Westen mit dem Osten verband. Nischnij Nowgorod war auch an das Eisenbahnnetz angeschlossen, sodass man von hier aus den Kaukasus, Persien, die Türkei, Zentralasien und sogar Indien und China erreichen konnte. Aufgrund dieser Lage begann der Handel in der Stadt schon sehr früh zu florieren. Archäologen entdeckten arabische und byzantinische Artefakte, die von Handelsbeziehungen mit dem Osten bereits im 13. und 14. zeugen. Die ersten dokumentierten Messen und Zusammenkünfte von Kaufleuten stammen aus dem 16. Jahrhundert. 

Nischnij Nowgorod Ende des 19. Jahrhunderts.

Zunächst fanden die Messen nicht in Nischnij Nowgorod selbst statt, sondern flussabwärts der Wolga, an den Mauern des Makarjew- Klosters statt. Sie waren vorübergehend und dauerten 1-2 Tage. Im 17. Jahrhundert legte Zar Alexej Michailowitsch jedoch eine fünftägige zollfreie Zeit für den Handel fest. Dies zog noch mehr Kaufleute an, die oft länger blieben und bereits Steuern an den Fiskus entrichteten.

Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts zeichnete sich ab, dass der Platz in der Nähe des Klosters nicht für alle Besucher ausreichte. Ein Großfeuer zerstörte außerdem die provisorischen Stände aus Holz. Zu dieser Zeit war die Messe in Nischnij Nowgorod bereits von großer Bedeutung und brachte der Staatskasse viel Geld ein.

Blick auf die Messe Ende des 19. Jahrhunderts

Die Messe zog nach Nischnij Nowgorod selbst um - an die Landzunge, an der die Oka in die Wolga mündet. Zar Alexander I. verschob die Renovierung seines eigenen Palastes, um 6 Millionen Rubel für den Bau eines neuen Gebäudes für die Messe zur Verfügung stellen zu können. Und das zahlte sich aus: Die erste Messe an diesem neuen Ort wurde im Jahr 1817 eröffnet. Zu dieser Zeit wurden in ihrem Rahmen Handelsware im Wert von 24 Millionen Rubel angeboten, 1846 waren es bereits 57 Millionen.

Eines der Gebäude des Gasthofs (Handelsreihen) in Nischnij Nowgorod.

Zeitgenossen nannten die Messe Nischni Nowgorod „den Handelsplatz zwischen Europa und Asien“. Ausländer verkauften Waren im Großhandel an einheimische Händler und Fabrikanten, und 90 % aller östlichen Waren wurden über die Messe in Nischnij Nowgorod eingeführt und von dort aus in ganz Russland vertrieben. Im Gegenzug kauften ausländische Kaufleute Waren von Europäern und Russen. 

Was wurde auf der Messe in Nischnij Nowgorod angeboten?

Gesamtansicht der Messe, Chromolithographie aus dem Jahr 1896.

In den 1850er Jahren war Nischnij Nowgorod das Reiseziel von bis zu 700 ausländischen Kaufleuten. Dabei überstieg das Volumen des asiatischen Handels in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Handelsvolumen mit Westeuropa um das Eineinhalb- bis Dreifache. 

Einer der wichtigsten Bereiche des Handels war der chinesische Tee. In den 1880er Jahren wurden jährlich 800-900 Pud [Anm.: 1 Pud = 16,3 kg] Tee im Wert von 42 Millionen Rubel nach Russland eingeführt. Es gab sogar eigene asiatische Reihen auf der Messe, die chinesischen Pagoden nachempfunden waren. 

Chinesische Handelsreihen auf der Messe, Ende des 19. Jahrhunderts.

Im Gegenzug kauften die Chinesen Pelze und Felle aller möglichen Tiere, von Füchsen, Eichhörnchen und Desmanen bis hin zu Schafen

Aus dem Iran wurden handgefertigte Teppiche, Seiden- und Baumwollstoffe sowie eine breite Palette an Lebensmitteln in Russland eingeführt: Walnüsse, Pistazien, Aprikosen, Mandeln, Pflaumen, Hirse und Reis. Die Perser ihrerseits kauften Wolle, Metall- und Lederwaren, Porzellan, Schreibpapier und vieles mehr aus Russland.

Pjotr Wereschtschagin. Unterer Markt in Nischnij Nowgorod, 1860er Jahre.

Russland exportierte auch Zucker, Leinen- und Hanfprodukte, Baumwoll- und Lederwaren, Wolle, Holz, Metalle und viele andere Waren in den Osten. Die Vielfalt der Erzeugnisse war überwältigend. Der russische Beamte Jegor Meyendorf erstellt in den 1820er Jahren eine Liste der von Kaufleuten aus Buchara erworbenen Waren: „Die aus Russland exportierten Waren umfassen Koschenil [roten Farbstoff - RBTH], Nelken, Zucker, Zinn, rotes und blaues Sandelholz, Tuch, rote Felle aus Kungur, Kasan und Arsamas, Wachs, einige Mengen Honig, Eisen, Kupfer Stahl, Goldfäden, kleine Spiegel, Otterfelle, Perlen, russisches Nanki [Baumwolltuch - RBTH], gusseiserne Töpfe, Nadeln, Korallen, Plüsch, Papiertücher, Brokat, kleine Glaswaren, in geringen Mengen russische Leinwand. ..“ 

Auch der Fischfang entwickelte sich zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. „Die Fischerei auf Beluga, Stör, Sternstör, Wels und einige andere Fischarten wurde im gesamten südlichen Kaspischen Meer fast vollständig von russischen Kaufleuten monopolisiert“, schreiben die Historiker A.A. und A.W. Iwanows.

Der Fischkutter der Murmansker Fischereiindustrie.

Im Laufe der Zeit wurden auch die Produkte der neu entstehenden Industrien, einschließlich der Metallurgie und der Webereien, exportiert, so etwa günstiger Kattun aus den berühmten Fabriken in der Stadt Schuja in der Region Iwanowo. In den 1880er und 1990er Jahren wurde hier sogar mit Öl und Ölprodukten gehandelt.

Die Maschinenabteilung der Messe von 1896.

Mit der Zeit entstanden auf der Messe Bankfilialen, boten Anwälte ihre Dienste an und wurden Börsengeschäfte getätigt. Die Messe war das wichtigste Ereignis für russische Großhändler und Hersteller. Aber auch kleine Handwerker und Kunsthandwerker waren auf der Messe vertreten. Spinnräder, Holzlöffel, Trachten, bemalte Tabletts, Geschirr, Spitzen - die Waren der besten Kunsthandwerker aus ganz Russland, die sich ein ganzes Jahr lang auf die Messe vorbereitet hatten und ihre besten Erzeugnisse mitbrachten, wurden dort ausgestellt.

Wie die Messe organisiert war

In seinem Buch „Michail Strogow“ beschreibt Jules Verne die Messe von Nischnij Nowgorod folgendermaßen: „Hier entstanden die ersten Jahrmarktsgebäude, die aus Holzbauten bestanden und durch breite Einfriedungen voneinander getrennt waren. Jede Art von Gewerbe hatte einen eigenen Bereich: Es gab Reihen für Holz, Eisen, Fleisch, Fisch, Pelze und Manufakturen. Viele Menschen drängten sich um die Bänke, sahen sich um, wählten aus und bewerteten die verschiedenen von den Händlern angebotenen Waren. Man konnte Vertreter aller Nationen antreffen, sowohl aus Europa als auch aus Asien. Der Lärm und das Durcheinander wurden noch verstärkt durch die Trommel- und Blasmusik, die von den Ständen kam, in denen Zauberer, Akrobaten und Tierdompteure unentwegt ihre Darbietungen zeigten.“

Gesamtansicht der Messe während des Hochwassers an der Oka, 1890.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts dauerte die Messe offiziell etwas mehr als einen Monat, in Wirklichkeit aber wurde von Juli bis September Handel getrieben. Die Messe war ein Fest für die Stadt. Mehr als 200 Tausend Menschen wurden von den Handwerkern, Zirkuskünstlern, Theaterleuten und Musikern in Nischnij Nowgorod angezogen. In den 1870-1880er Jahren wurde das Messegelände an das Elektrizitäts- und Wasserversorgungsnetz angeschlossen. Die Messe wirkte sich positiv auf die gesamte Stadt aus, Nischnij Nowgorod verfügte über eine moderne Infrastruktur, Hotels und Gasthöfe wurden gebaut. Hier wurde außerdem 1896 eine der ersten Straßenbahnen in Russland in Betrieb genommen. 

Es gab zwei Kathedralen auf dem Messegelände: 1822 wurde die Verklärungskathedrale („Alte Marktkirche“) des französischen Architekten Auguste de Montferrande eröffnet (nach dessen Plänen später die Isaakskathedrale in St. Petersburg, ein ähnlicher Kuppelbau mit Säulen, gebaut wurde).

Im Jahr 1881 wurde die Alexander-Newski-Kathedrale in Anwesenheit von Zar Alexander III. selbst, seiner Frau und seines Sohnes, des späteren Zaren Nikolaus II., feierlich eröffnet. Im selben Jahr wurde auch das neue Hauptmessehaus im russischen Stil fertiggestellt (ein ähnliches Kaufhaus am Roten Platz entstand später). Alle drei Gebäude sind bis heute erhalten geblieben.

Im Jahr 1896 fand in Nischnij Nowgorod die größte gesamtrussische Industrie- und Kunstausstellung in der Geschichte des Russischen Reiches statt. Mehr als 100 provisorische Pavillons wurden dafür gebaut. Zu den Ausstellungsobjekten zählten das erste russische Automobil und die Stahlgitterkonstruktionen des Ingenieurs Wladimir Schuchow.

Die 16. gesamtrussische Industrie- und Kunstausstellung in Nischnij Nowgorod, 1896.

Nach der Revolution von 1917 wurde die Messe noch eine Zeit lang weitergeführt, die Besucherzahlen ihrer Blütezeit aber erreichte sie nicht mehr. Schließlich gab es keinen freien Handel mehr, dieser wurde vollständig dem Staat unterstellt. Im Jahr 1929 beseitigten die Bolschewiki diese kapitalistische und „sozial schädliche Erscheinung“ endgültig. Viele der Messegebäude wurden zerstört oder zu Wohnräumen umfunktioniert.

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