Die Heilkunde gibt es in Russland seit dem Altertum. Sie gründete sich auf natürliche Ingredienzien und die Banja-Kultur, die von den Warägern stammt und durch die der Hygienestandard in der Rus höher war als in den europäischen Ländern. Von Byzanz aus, das das Wissen der antiken und orientalischen Heilkundigen bewahrte, wurden wertvolle Informationen weitergegeben und Medikamente über die Seidenstraße bezogen.
Mit dem Aufkommen des Christentums begannen die Klosterspitäler eine wichtige Rolle bei der Behandlung der lokalen Bevölkerung zu spielen. Viele Manuskripte, auch medizinische, wurden in den örtlichen Bibliotheken aufbewahrt, übersetzt und ergänzt.
Die Entwicklung der Medizin in Russland wurde jedoch durch die Mongolen-Invasion stark gebremst. Dank der Erfahrung und des Könnens der Ausländer, die in den Dienst des lokalen Adels traten, gelang es, dieses Wissen wieder aufzubauen.
Die ersten deutschen Ärzte in Russland
Bereits im 15. Jahrhundert kamen deutsche Mediziner nach Russland. Die ersten gehörten zum Gefolge von Sophia Palaiologa, der Nichte des byzantinischen Kaisers und Ehefrau von Iwan III. Aus den Annalen kennen wir den Namen des Arztes Anton Nemtschin, der am Hof des Herrschers hohes Ansehen genas.
Das Schicksal des Arztes war jedoch nicht zu beneiden. Als ein Patient, ein tatarischer Fürst, an der von ihm verschriebenen Medizin starb, wurde der unglückliche Deutsche „von einem einheimischen Kopf verraten und zum Entsetzen aller Ausländer unter der Moskworezkij-Brücke erstochen, so dass der berühmte Aristotele [Fioravanti, ein italienischer Architekt und Ingenieur, der sich seit 1475 in Russland aufhielt – Anm. d. Verf.] Russland sofort verlassen wollte.“
Trotz dieser unglücklichen Erfahrung behielt auch Wassili, der Sohn Iwans III., deutsche Ärzte am Hof. Einer von ihnen, Theophilus, ein gebürtiger Lübecker, wurde während des Litauischen Feldzugs gefangen genommen. Der preußische Herrscher forderte Wassili zweimal auf, den Arzt in dessen Heimat zurückzubringen, aber der Großfürst schätzte Theophilus so sehr, dass er sich weigerte, diesem Wunsch nachzukommen.
Ein weiterer Arzt am Hofe, Nicolaus Buelow, der in Lübeck geboren wurde, war ein Experte in vielen Wissenschaften und diente eine Zeit lang als Dolmetscher. Er übersetzte auch den „Garten der Gesundheit“ ins Slawische. Dies war eines der ersten gedruckten deutschen Kräuterbücher, in dem die medizinischen Eigenschaften von Pflanzen beschrieben werden und das Empfehlungen für die Krankenpflege enthält. Es waren Theophilus und Nicolaus Buelow, die mit der Behandlung von Wassili III. betraut wurden, als dieser 1533 auf der Jagd erkrankte.
Der renommierte russische Historiker Nikolai Karamsin berichtet über ein Gespräch zwischen dem sterbenden Fürsten und Buelow: Der Herrscher nannte den Arzt „Freund und Bruder“ und fragte, ob eine Heilung möglich sei. Als der Arzt antwortete, dass er nicht in der Lage sei, Tote zu heilen, war Wassili nicht wütend, sondern akzeptierte sein Schicksal.
Die Praxis, englische, niederländische und deutsche Ärzte nach Russland einzuladen, gewann allmählich an Popularität. Zur Anwerbung von medizinischer Fachkräfte im Ausland wurden eigens Leute geschickt, die wir heute als „Scouts“ bezeichnen würden. Unter denen, die nach Russland kamen, waren auch Abenteurer – zum Beispiel der Westfale Eliseus Bomelius. Er beschäftigte sich mit Magie und Astrologie und stellte Gifte her, wofür er den Spitznamen „böser Magier“ erhielt. Die Chroniken werfen ihm viele Sünden vor: Er habe „den Zaren von seinem Glauben abgebracht“, und „der Zar hat dem russischen Volk Härte und den Deutschen Liebe auferlegt“.
Pharmazeuten und Apotheker
Unter Iwan IV. (dem Schrecklichen), dem Sohn Wassilis III., erschienen die ersten Apotheker in Russland, und bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts unterstanden die Apotheker einer besonderen Verwaltungsbehörde – den „Apotheker-Prikas“. Zu dieser Zeit wurde klar, dass der Zugang zu Medikamenten auch für einfache Menschen geöffnet werden sollte, und 1672 wurde in Moskau eine Apotheke für „alle Ränge“ eingerichtet. Zwei Deutsche – Johann Gutmensch und Christian Eichler – wurden mit dieser wichtigen Aufgabe betraut. Die Preise waren hoch, aber das Angebot an Waren konnte selbst einen anspruchsvollen Reisenden überraschen.
Nach und nach entstanden private Apotheken, und die erste Zulassung wurde auch einem Deutschen erteilt – Johann Gottfried Gregorius. Die Geschäfte wechselten häufig den Besitzer und die Leitung und wurden im Laufe der Jahrhunderte von einer Reihe deutscher Staatsbürger geführt. Es entstanden ganze Dynastien deutscher Apotheker – so besaß die Familie Ferrein die größte Apotheke Moskaus und gründete in der Folge einen der größten Pharmakonzerne Europas mit fünf Apotheken, Laboratorien, einer Glashütte, Kräuterplantagen und einer chemischen Fabrik. Die Ferreins zogen auch Investoren aus ihrem Heimatland in ihr Unternehmen an.
Es ging so weit, dass fast alle Inhaber und Angestellten der Moskauer Apotheken aus Deutschland stammten und in den 50 St. Petersburger Betrieben betrug der Anteil der deutschen Mitarbeiter 70-90 Prozent. Viele der Apotheker haben nicht nur Medikamente verkauft, sondern auch geforscht und damit die russische Pharmazie weiterentwickelt.
Medizinische Ausbildung und Wissenschaft
Mit Hilfe und Unterstützung der Deutschen wurden in Russland Fachgesellschaften, Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser eröffnet. Die erste medizinische Gesellschaft in Russland, die „Chirurgische Gesellschaft“, bestand nur aus Deutschen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden drei von fünf solcher Organisationen in St. Petersburg von deutschen Staatsbürgern gegründet.
Sie veröffentlichten ihre wissenschaftlichen Forschungen in Form von Aufsatzsammlungen und Zeitschriften, zum Beispiel in der deutschsprachigen „St. Petersburger Medizinischen Zeitung“. Den Deutschen sind auch viele Fachpublikationen in russischer Sprache zu verdanken: So wurde beispielsweise die „Zeitschrift für medizinische Chemie und Pharmazie“ von der Apothekerfamilie Poehl gegründet. Sie boten auch die Grundlage vieler wissenschaftlicher und medizinischer Medien.
Eine weitere Quelle des Wissens und ein Motor der Wissenschaft war das Buchwesen. Hier ist insbesondere der Name von Johann Jakob Weitbrecht zu nennen, der als Leiter der Abteilung für ausländische Literatur an der Russischen Akademie der Wissenschaften tätig war. Dank ihm wurden zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über die Eigenschaften von Pflanzen, Geburtshilfe und Kinderheilkunde, Geschlechtskrankheiten und sogar die Pockenimpfung veröffentlicht. Die Zarin Katharina II. legte großen Wert auf einen Schutz vor dieser Krankheit und ließ sich selbst weniger als einen Monat nach der Veröffentlichung des Buches impfen.
1786 veröffentlichte derselbe Weitbrecht das Handbuch „Grundriss der Einrichtung der Кaiserlich Medicinisch-chirurgischen Schule und einiger andern Hospitäler in St.-Petersburg“, verfasst von dem Leiter der Medizinischen Hochschule Johann Heinrich von Kelchen. Die in diesem Aufsatz beschriebene Schule wurde tatsächlich bald darauf eröffnet: Sie hatte mehrere Dutzend deutsche Professoren in ihren Reihen und vier ihrer Präsidenten waren Deutsche. Ihr Einfluss war so groß, dass es lange Zeit nur möglich war, eine Dissertation hier in Latein und Deutsch zu verteidigen. Die Medizinische Hochschule selbst hatte unter anderem die Aufgabe, die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu organisieren, die Tätigkeit der Apotheken zu überwachen und die Kenntnisse der Ärzte, auch der ausländischen, zu prüfen.
Es ist schwer vorstellbar, dass es in Russland einen Bereich der Medizin gibt, der nicht von einem Deutschen berührt worden ist. Einige Begriffe aus der deutschen Sprache werden von russischen Ärzten und der breiten Öffentlichkeit immer noch verwendet, zum Beispiel das sehr verbreitete Wort „Kurort“.