Wie ein sowjetischer Arbeiter Präsident von Taiwan wurde

Geschichte
BORIS JEGOROW
Viele Jahre lang war Tschiang Tsching-kuo ein fanatischer Kommunist. Das hielt ihn nicht davon ab, seine ehemaligen ideologischen Mitstreiter im Weiteren brutal zu verfolgen.

1978 wurde das Amt des Präsidenten der von Russland nicht anerkannt Republik China (Taiwan) von einem Mann übernommen, der vielen als Nikolaj Jelisarow bekannt war, einem einfachen Fabrikarbeiter aus dem Ural und Mitglied der Kommunistischen Partei. Wie konnte ein Anhänger der Idee der Weltrevolution aus dem fernen Russland in einem antikommunistischen asiatischen Land an die Macht kommen?

Tatsächlich war Jelisarow weder Russe noch Kommunist (zumindest seit den späten 1930er Jahren). Unter diesem Pseudonym lebte Tschiang Tsching-kuo, der älteste Sohn von Generalissimus Tschiang Kai-schek, dem Führer der nationalkonservativen Kuomintang-Partei und des von einigen Staaten anerkannten Inselstaates Taiwan, einst in der Sowjetunion.

In einer neuen Heimat

Nach dem Zusammenbruch des Qing-Reiches im Jahr 1912 versank China im Chaos. Das Land war zwischen militärischen und politischen Cliquen aufgeteilt, da es keine starke Zentralgewalt gab. Eine der einflussreichsten Kräfte, die darauf abzielte, die Krise zu beenden, war die Kuomintang-Partei.

Tschiang Kai-schek, der sie ab 1925 anführte, wie auch sein Vorgänger Sun Jat-sen, stützten sich in ihrem Kampf auf die Sowjetunion. Durch die Zusammenarbeit mit der schnell wachsenden Macht der Kuomintang versuchte Moskau, seinen Einfluss in der Region auszuweiten. Indem sie die Nationalisten ins Visier nahm, zwang die UdSSR sogar die viel bescheidenere chinesische kommunistische Bewegung, sich ihr anzuschließen.

Die Bolschewiki waren begierig darauf, die freundlichen Chinesen auf ihrem Territorium auszubilden, und 1925 kam Tschiang Kai-scheks Sohn Tschiang Tsching-kuo in Moskau an. Dort wohnte der 16-jährige Teenager eine Zeit lang bei Lenins älterer Schwester Anna Jelisarowa-Uljanowa, woraufhin er sich ein Pseudonym zulegte, das dem russischen Ohr vertrauter war: Nikolaj Jelisarow.

In der Hauptstadt schrieb sich Tsching-kuo an der Universität der Östlichen Arbeiter ein, wo Deng Xiaoping, einer der zukünftigen Führer des kommunistischen Chinas, mit ihm studierte. Er absolvierte eine Ausbildung an der Panzerschule in Kasan und an der Militärischen und Politischen Akademie in Leningrad und arbeitete auch in der Fabrik Dynamo.

Nachdem er die russische Sprache perfekt erlernt hatte, lebte sich Tsching-kuo-Jelisarow erfolgreich an einem neuen Ort ein, während sein Vater das Land während des so genannten Nordfeldzuges gegen die Militärcliquen und die schwache Beijang-Regierung unter dem Banner der Kuomintang einte.

Das alles änderte sich am 12. April 1927. Tschiang Kai-schek, der sich weigerte, die Macht mit irgendjemandem zu teilen, startete einen Überraschungsangriff auf seine Verbündeten, der zur Massenverhaftung und Hinrichtung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas führte und diese zwang, in den Untergrund zu gehen. Solche Aktionen konnten von Moskau nicht unbeantwortet bleiben, und im Dezember desselben Jahres wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern abgebrochen.

Der Arbeiter aus dem Ural

Geschockt von dem, was passiert war, befand sich Tschiang Tsching-kuo in einer schwierigen Lage. Er verleugnete seinen Vater und dessen Taten sofort öffentlich. Der Sohn von Tschiang Kai-schek blieb von Repressalien verschont und arbeitete eine Zeit lang in einer Kolchose in der Region Moskau.

Doch die Entfremdung zwischen Stalin und dem chinesischen Führer wuchs, und 1932 wurde Jelisarow weit weg von der Hauptstadt in den Ural nach Swerdlowsk (Jekaterinburg) geschickt, um die Vertreter der chinesischen Kommunisten in der Komintern nicht zu verärgern.

Nach seinem Eintritt in das Werk Uralmasch wurde Tschiang Tsching-kuo Assistent des Leiters der Mechanikerwerkstatt für soziale Fragen und kümmerte sich um die alltäglichen Probleme der Arbeiter. Später wurde er Redakteur der lokalen Zeitung Für Schwermaschinenbau.

Auch das Privatleben von Jelisarow verbesserte sich. 1935 heiratete er Faina Wachrjewa, die in der gleichen Fabrik arbeitete und ihm bald zwei Kinder gebar.

Am 16. November 1936 schrieb Tsching-kuo einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in dem er erneut seine negative Haltung gegenüber seinen Eltern zum Ausdruck brachte: „Mein Vater Tschiang Kai-schek ist ein Abtrünniger und Verräter der großen chinesischen Revolution und zurzeit das Oberhaupt der chinesischen schwarzen Reaktion. Vom ersten Moment seines Verrats an habe ich gegen ihn gekämpft.“ Jahre später gab der zukünftige taiwanesische Führer jedoch zu, dass er solche Aussagen nur unter Druck gemacht hatte.

Die Rückkehr nach Hause

Das spätere Leben von Tschiang Tsching-kuo in der UdSSR ist geheimnisumwittert. Bekannt ist, dass er als ehemaliges Parteimitglied schon bald seine kommunistischen Ideale aufgab und immer öfter über eine Rückkehr nach China nachdachte. Irgendwie schaffte er es. Im Mai 1937 kündigte er seinen Job und ging nach Moskau, von wo aus er mit seiner Familie das Land mit dem Zug verließ.

Ein gewöhnlicher Arbeiter aus dem Ural wäre nie in der Lage gewesen, eine solche Reise zu unternehmen. Nach der glaubwürdigsten Version wurde der Sohn auf Stalins persönlichen Befehl zu seinem Vater geschickt. Angesichts der wachsenden japanischen Bedrohung musste der sowjetische Führer die Beziehungen zur Kuomintang normalisieren.

Tschiang Kai-schek vergab seinem Sohn sofort und nahm ihn in seinen Kreis der Vertrauten auf. Auch Faina Wachrjewa wurde herzlich willkommen geheißen.

Sie erhielt den chinesischen Namen Fangliang, was so viel bedeutet wie gute und tugendhafte Ehefrau.

Der Kommunist Nikolaj Jelisarow gehörte von nun an für immer der Vergangenheit an, während Tschiang Tsching-kuo zu einer der wichtigsten Figuren in der Republik China wurde. Er war es, der 1946 in die Sowjetunion reiste, um mit Stalin über den Ausbau der bilateralen Beziehungen zu sprechen.

Nach der Niederlage der Regierungstruppen durch die Chinesische Volksbefreiungsarmee und der Evakuierung von Tschiang Kai-scheks Anhängern nach Taiwan im Jahr 1949 leitete Tsching-kuo die Geheimpolizei auf der Insel und machte sich auf die Suche nach inneren Feinden, was in einer Welle gewaltsamer Unterdrückung gipfelte.

Nachdem er kurz nach dem Tod seines Vaters Herrscher der Republik China (Taiwan) wurde, hat Tschiang Tsching-kuo viel dafür getan, den wirtschaftlichen Wohlstand des Landes zu sichern und es in einen asiatischen Tigerstaat zu verwandeln. Der Präsident selbst nahm einen extrem bescheidenen Lebensstil an, den er in der Sowjetunion gelernt hatte, und spendete den Großteil seines Einkommens für wohltätige Zwecke.

Die First Lady war ähnlich bescheiden. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1988 verzichtete sie auf ihre Präsidentenrente und begnügte sich mit einer viel geringeren Pension für eine Beamtengattin. Nachdem sie fast alle ihre Kinder überlebt hatte, verbrachte Faina Wachrjewa den Rest ihrer Tage in einem Pflegeheim. Die ehemalige Arbeiterin des Ural-Werks wurde 2004 in Taipeh im Beisein hoher Staatsbeamter mit allen Ehren beigesetzt.