Das atheistische Sowjetregime verbot die orthodoxe Weihnacht, erkannte aber bald, dass die Menschen ein neues Winterfest brauchten. Also „erfanden“ sie einen anderen Brauch. 1936 legte Stalin fest, das Neujahr zu einem rauschenden Fest zu machen.
Verbotene Weihnachten
„Zwischen den trostlosen Tagen mit Schufterei, Demütigung, Schmerzen, Hunger und Schlafmangel, die das Leben der Häftlinge in Stalins Lagern prägten, gab es auch seltene Tage der Freude. Genau wie heute waren Weihnachten und Neujahr unsere liebsten und lang ersehnten Feiertage“, sagt Tatjana Poljanskaja, leitende Wissenschaftlerin im Historischen Museum des Gulags.
Um 1936 saßen mehr als eine Million Menschen in stalinistischen Lagern. Das sowjetische Neujahrsfest war noch kein nationaler Feiertag, und so wurde dort vorwiegend Weihnachten gefeiert, allerdings heimlich: Wer einen religiösen Feiertag beging und gegen die Lagerordnung verstieß, musste mit einer schweren Strafe rechnen. Oft wurden solche Verstöße von „Spitzeln“ gemeldet, und die kleinste Fahrlässigkeit konnte im besten Fall zur Vernichtung der Ausstattung für die Feierlichkeiten führen, im schlimmsten Falle drohte dem „Delinquenten“ die Strafzelle. Jeder handelte also auf eigene Gefahr.
Er wurde am 24. Dezember gefeiert (im alten Stil, und nicht, wie in Russland heute, am 7. Januar). An diesem Tag war es nicht ungewöhnlich, dass die Arbeitszeiten in den Lagern absichtlich verlängert wurden, um die Gefühle der Gläubigen zu verletzen und ihnen ihr Fest vorzuenthalten Die Häftlinge bemühten sich jedoch nach Kräften, diesen Tag zu begehen, eine Feier zu veranstalten und sie in guter Erinnerung zu behalten.
Der Weihnachtsbaum und die Mahlzeiten im Lager
Das Festmahl musste sehr lange im Voraus vorbereitet werden, manchmal sogar schon im Herbst. Die Verpflegung war bescheiden. Jeder versuchte, einige Lebensmittel aus den von Verwandten geschickten Paketen zur Seite zu legen, vor allem solche, die lange haltbar waren, wie Trockenfrüchte, Mehl, Zucker oder Trockenfisch.
Alles wurde sorgfältig versteckt, „meist in Schneebergen im Hof, weil jeder Winkel des Lagers gründlich durchsucht wurde“, erinnerte sich Wera Prochorowa, die in den 1950er Jahren sechs Jahre in dem Lager verbrachte. Nachts wurden auf im Ofen, der die Baracken beheizte, Speisen wie Brei mit Honig und Trockenobst, Trockenkartoffeln und sogar Kuchen zubereitet.
Prochorowa erinnerte sich daran, dass es ihr von Zeit zu Zeit gelang, von der Lagerleitung ein neues Bettlaken zu erhalten, das angeblich ein löchriges Laken ersetzen sollte und aus dem dann eine improvisierte Tischdecke hergestellt wurde.
Die Gefangenen versuchten auch, Tannenzweige in die Baracken zu schmuggeln. Wer für den Holzschlag in der Taiga abgestellt war, versteckte an Heiligabend eine kleine Tanne oder einen Zweig unter seiner Kleidung und brachte sie heimlich herein.
Am Feiertag selbst, wenn die Kaserne für die Nacht geschlossen wurde, setzten sich alle zum Essen zusammen und beteten. Auch kommunistische Nicht-Gläubige wurden an den Tisch gebeten. In den meisten Fällen setzten sich die Atheisten an den Tisch. Die Gefangenen riefen in Erinnerung, wie die verschiedenen Konfessionen und Religionen gemeinsam feierten, und in der Weihnachtsnacht herrschte das Gefühl einer tiefen geistigen Einigkeit. Das Evangelium wurde rezitiert und Weihnachtslieder wurden in verschiedenen Sprachen gesungen.
„An Weihnachten und Silvester herrschte eine magische Stimmung in den Baracken des Lagers - Menschen unterschiedlicher Nationalität, Herkunft, 'politische' und 'kriminelle' Häftlinge kamen sich näher, vereint durch ein gemeinsames erhabenes Gefühl, eine Hoffnung auf bessere Zeiten, ein Gefühl der Freude am Leben selbst“, sagt Tatjana Poljanskaja.
Neues Jahr und Postkarten an Familie und Freunde „draußen“
Die Lagerleitung übte jedoch Nachsicht, was das Silvesterfeiern anging, und hinderte die Gefangenen in keiner Weise daran. Zunächst wurde Neujahr nur von der Parteiintelligenz und den Atheisten gefeiert. Bald wurde der Jahreswechsel zu einem echten Nationalfeiertag - ein Anlass, etwas Gutes ins Leben zu bringen.
Obwohl sich die Lagerbedingungen Ende der 1930er Jahre mit minimalen Brot- und mageren Haferbrei-Rationen verschlechterten, nutzten die Menschen jede Gelegenheit, um auch nur den leisesten Anschein eines Festes zu erwecken. Selbst auf ein Festessen konnten sie verzichten. Die Häftlinge stellten aus allem, was sie finden konnten, selbst Schmuck für den Weihnachtsbaum her und bastelten Geschenke und Spielzeug für die Kinder im Lager (Neujahr wurde vor allem als Feiertag für Kinder angesehen).
Viele Lagerinsassen taten auch ihr Bestes, um ihren Lieben draußen eine Freude zu bereiten, indem sie Grußkarten zeichneten: Darunter waren auch jene Exemplare, die zum Beispiel der wegen „antisowjetischer Propaganda“ fünf Jahre im Norden einsitzende Ingenieur Alexej Silin oder Ljudmila Chatschatrjan, die acht Jahre wegen ihrer Heirat mit einem Ausländer im Lager verbrachte, nach Hause schickten.