Heutzutage kann sich jeder, der ein Smartphone besitzt, als Dokumentarfotograf bezeichnen, indem er mit einem leichten Knopfdruck einfängt, was ihn umgibt. Ende des 19. Jahrhunderts musste Carl Bull eine gewaltige Ausstattung mit schweren Geräten mit sich herumschleppen.
Carl Oswald Bulla war Deutscher. 1855 wurde er in der preußischen Stadt Leobschütz (Głubczice im heutigen Polen) geboren. Wie er nach Russland kam, ist unbekannt, aber im Alter von 20 Jahren eröffnete der junge Mann sein eigenes Fotostudio am Newski-Prospekt in St. Petersburg. Ursprünglich war es in einer Passage untergebracht, die auch auf Bulla's Fotografien zu sehen ist.
Dann bezog der Fotograf ein größeres Atelier, ebenfalls am Newski-Prospekt, in der Nähe des namhaften Warenhauses Gostinyj Dwor. Dies erklärt die beeindruckende Menge an Fotos vom Newski-Prospekt in Bullas Sammlung.
Einige dieser Fotografien enthalten auch besondere historische Details, wie dieser Omnibus auf dem Newski-Prospekt (beachten Sie das weiße Schild, auf dem „Fotografie von K.K. Bulla“ zu lesen ist).
Viele Leute besuchten sein Studio, um Studiofotos schießen zu lassen, und auf diesen alten Fotos sehen wir die Unterschrift „K. K. Bulla, St. Petersburg“.
Doch Bulla beschränkte sich nicht auf Studiofotografie, zumal er von den Behörden die Erlaubnis erhalten hatte, überall zu fotografieren, „auf der Straße, in den Wohnungen und an Orten in der unmittelbaren Umgebung von St. Petersburg“.
In einer Werbebroschüre für seine Dienste schrieb er, dass er keine Wege scheue und jederzeit, auch in den Abendstunden, bereit sei, Porträts von Verstorbenen oder Gruppenporträts anzufertigen, Innenräume, Architektur, Arbeiter, Eisenbahnen, Stadtansichten zu fotografieren ... kurz gesagt, alles.
Bulla war ein wahrer Fotozeuge einer ganzen Epoche, und dank ihm können wir heute das zaristische Russland in seiner Endphase betrachten und Wirklichkeiten sehen, die unwiderruflich verloren gegangen sind.
Bulla hinterließ viele Fotos von St. Petersburg, insbesondere von Straßenhändlern.
oder von Müllmännern
oder von Volksküchen für die Armen
oder, im Gegenteil, von einer Bar im Nobelrestaurant „Medwed“
oder vom Buchhandel des berühmtesten Verlegers Alexej Suworin
oder von einer Attraktion während des Masleniza-Festes - einer Achterbahn, nach der solche Fahrgeschäfte in manchen europäischen Ländern immer noch „Russenhügel“ genannt werden.
Eine einzigartige Aufnahme der Pferdebahn auf der Nikolai-Brücke (in der Sowjetzeit wurde sie grundlegend umgebaut und heißt jetzt Blagoweschtschenski-Brücke).
Bulla hat auch zahlreiche Überschwemmungen in St. Petersburg fotografiert.
Und hier beobachten Petersburger Bürger die Sonnenfinsternis vom 4. April 1912.
Er besuchte den Ladogasee in der Nähe von St. Petersburg und dokumentierte das Alltagsleben im Konewski-Kloster.
Er schuf erstaunliche Porträts von Schima-Mönchen.
Auf den Fotos von Bulla sind immer wieder interessante historische Details zu sehen. Zum Beispiel ein Sanitätswagen wie dieser.
Prüfung eines Benzinmotors (vor dem Hintergrund des Ehernen Reiters, eines Denkmals für Peter I.).
Und wie gefällt Ihnen die Gestaltung der Liegeplätze in einem Zugwaggon?
Bulla fing auch den Flug des neuen Flugzeugs Farman-4 (1910) ein.
Der Fotograf dokumentierte die Eröffnung des Straßenbahnverkehrs.
Fotos des berühmtesten Schriftstellers der Jahrhundertwende, eines Zeitgenossen des Fotografen, durften in Bullas Sammlung nicht fehlen.
Der Fotograf besuchte das Anwesen von Leo Tolstoi in Jasnaja Poljana und fotografierte das Haus und die Familie des Schriftstellers.
Er besuchte auch das Landgut des Künstlers Ilja Repin „Penaten“, wo er Fotos von berühmten Gästen machte, so vom Kritiker Wladimir Stassow, dem Schriftsteller Maxim Gorki und Repin selbst.
Hier fotografierte Bulla, wie Maxim Gorki und seine Geliebte, die Schauspielerin Maria Andrejewa, für Repin posieren.
In Repins Anwesen wurde Bulla auch von der Nachricht über den Tod des großen Schriftstellers Tolstoi überrascht, und aus seiner Kamera entstand das historische Foto, das Repin zeigt, wie er die Todesnachricht in Anwesenheit des Schriftstellers Kornej Tschukowski liest.
Bulla fotografierte auch den St. Petersburger Priester, den in ganz Russland berühmten Pater Johannes von Kronstadt, der 1990 von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurde.
Er porträtierte außerdem den „großen und schrecklichen“ Grigorij Rasputin, einen Freund der Zarenfamilie. Auf dem Foto ist er mit Offizieren aus der Palastverwaltung des Zaren abgebildet.
Die Fotografien von Karl Bulla wurden bereits in den 1890er Jahren in Zeitschriften veröffentlicht, und er wurde im ganzen Land bekannt. Man lud ihn nun auch ein, Fotos von hohen Persönlichkeiten, darunter auch seltene Fotos vom Zaren selbst zu machen. Er reiste nach Kostroma, um den 300. Jahrestag der Romanow-Dynastie zu feiern.
Hier wird ihm nach alter russischer Tradition der Gastfreundschaft Brot und Salz gereicht.
Hier spricht Nikolaus II. mit den Bauern.
Hier ein Eindruck von den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag von St. Petersburg im Jahr 1903.
Und hier ist er in Eile (mit seiner Mutter) beim Stapellauf der neuen Jacht „Alexandra“.
Die Zarin und ihre Kinder beobachten die Parade von der Veranda des Katharinenpalastes in Zarskoje Selo.
1916 zog sich Carl Bulla aus dem aktiven Berufsleben zurück und übertrug das Atelier seinen Söhnen Alexander und Viktor, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls berühmte Fotografen (und sogar Pioniere der Filmindustrie) geworden waren. Sie erstellten eine Foto-Chronik der Revolution von 1917.
Auch Carl Bulla selbst machte einige Fotos von den revolutionären Ereignissen.
Wie Revolutionäre den Schlitten von Nikolaus II. beschlagnahmten.
Er fotografierte auch den Leiter der Provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, in einem Büro im Winterpalast.
Carl Bulla fuhr 1917 auf die Insel Saaremaa (damals Teil des Russischen Reiches, heute Estland), die von den revolutionären Umwälzungen verschont blieb; er lebte dort ein ruhiges Leben und starb 1929. Dieses Foto zeigt Bulla mit seiner Familie - er selbst steht in der Mitte, sein Sohn Alexander zu seiner Linken und sein Sohn Viktor und seine Frau zu seiner Rechten.
Beide Söhne erlitten in der nachrevolutionären Zeit Repressalien, und viele Bilder wurden von den sowjetischen Machthabern zerstört. Das Atelier ging jedoch in Staatseigentum über und wurde sogar während der Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg weitergeführt. Bulla's Atelier wird heute noch als privates Fotostudio im selben Gebäude am Newski-Prospekt weitergeführt. Es beherbergt auch die Carl-Bulla-Stiftung für historische Fotografie und ein Museum.
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