Wie wurden in der alten Rus die Fragen der Schöpfung erklärt?

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Die einfachen Leute verstanden die komplizierten kirchlichen Texte nicht, also versuchten sie, die verschiedensten Phänomene auf leichter zugängliche volkstümliche Weise zu erklären.

Die slawische heidnische Mythologie hatte ihre eigenen Erklärungen für wichtige Fragen - wie sind die Welt und verschiedene Naturphänomene entstanden, woher kommt der Mensch und warum ist er so und nicht anders?

In der alten Rus wusste jeder, dass der oberste Gott Perun war, ein Gott des Donners und der Blitze und Schutzherr des Fürsten mit seinem Gefolge. Er bringt Regen, der den Boden fruchtbar macht, aber er kann auch einen Baum mit einem Blitz spalten.

 

Der Eid des Fürsten Oleg und seines Gefolges auf den Gott Perun im Jahr 907.

Perun wohnt im Himmel, steht aber in einem ewigen Konflikt mit Veles, der auf der Erde lebt und Ackerbau und Viehzucht schützt. Darüber hinaus ist Veles der Gott des Handels. Es wird angenommen, dass nach der Verbreitung des Christentums die „Funktion“ von Veles von Nikolaus dem Wundertäter übernommen wurde, der zu einem der wichtigsten Heiligen in Russland wurde.

Darstellung von Mokosch auf nordrussischen Stickereien.

Der Sonnengott war Chors, Daschbog der Gott der Fruchtbarkeit und Stribog der Gott des Windes und der Luft. Es gab auch die weibliche Gottheit Mokosch, die dem Weiblichen zugeordnet und die Schutzherrin der Frauen war, insbesondere der Mütter. Sie war auch die Göttin der Weberei, des Handwerks und ganz allgemein des weltlichen Wohlergehens.

Das Christentum und die neue Vorstellung von der Welt

Ende des X. Jahrhunderts gewann in Russland das Christentum die Oberhand. Die komplexen Texte der Heiligen Schrift waren jedoch für die meisten Menschen unzugänglich. Ursprünglich waren sie in griechischer Sprache verfasst, und die Priester erklärten sie im Gottesdienst (und oft legte sie jeder nach seinem eigenen Verständnis und entsprechend seiner Bildung aus).

Eid des Fürsten Igor vor der Figur des Perun und der Christen vor der Kirche des Heiligen Elias.

Ihrer heidnischen Götter und Vorbilder beraubt, suchten viele Menschen immer noch nach Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens und nach Erklärungen für verschiedene Naturphänomene. Die einfachen Menschen konnten oft nicht erkennen, dass alles, was geschah, Gottes Wille war, und sie brauchten bessere Beispiele dafür, wie die Dinge auf der Erde „funktionieren“.

Bis zum 17. Jahrhundert wurden außerdem neue Gebiete des Urals und Sibiriens, in denen die einheimische Bevölkerung noch heidnisch war, in das Russische Reich aufgenommen und damit ihr Welt-, Menschen- und Götterbild weitergegeben. Mancher Aberglaube, Volksglaube über Dämonen und die Macht von Naturphänomenen sind in Russland bis heute erhalten geblieben. Viele orthodoxe Feste wurden sogar an heidnische Traditionen „angepasst“ (wie die Butterwoch „Masleniza“ vor der Fastenzeit), um den Menschen die Gewöhnung an die neuen Bräuche zu erleichtern.

Es entstanden auch mündliche Überlieferungen, die neue christliche Konzepte mit altbekannten mythologischen und volkstümlichen Motiven vermischten. Zu den bekanntesten schriftlichen Darstellungen von Antworten auf wichtige Fragen der alten Rus zählte sogenannte „Tiefe Buch“ (Glubinaja kniga), oder, wie es im alten Russland genannt wurde, das „Taubenbuch“ (Golubinaja kniga). Die Taube war ein Symbol für den Heiligen Geist und den Frieden.

Ein verbotenes Buch gibt Antworten auf Fragen zum Universum

Das Taubenbuch ist im Grunde eine apokryphe Schrift, für die Lektüre solcher Texte konnte ein Mensch zum Ketzer erklärt und bestraft werden.

Nicholas Roerich. Taubenbuch, 1922.

Wann genau das „Taubenbuch“ erschien, ist nicht bekannt. Die ersten überlieferten schriftlichen Fassungen stammen aus dem XVII. Jahrhundert, Wissenschaftler aber glauben, dass der Text schon früher entstanden ist - im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert. Es ist in Versform geschrieben, die an epische Volkssagen erinnert.

Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste beschreibt sein Erscheinen selbst. Angeblich fiel ein riesiges Buch vom Himmel, und viele Menschen eilten herbei, fürchteten sich aber davor, sich ihm zu nähern. Das Buch öffnete sich von selbst, sobald sich der weise König David Jewseewitsch (hinter dessen Figur höchstwahrscheinlich der biblische König David steht) näherte. Er erzählt den Menschen, dass das Buch von Christus selbst geschrieben und vom Propheten Jesaja gelesen wurde. 

Im zweiten Teil bitten die Menschen David, in dem Buch Antworten auf ihre Fragen zu finden. Woher stammen bestimmte Phänomene - Sonne, Regen, Wolken, Sterne, Nächte und so weiter. Hinzu kommen spirituelle Fragen über den Ursprung des Geistes und der Gedanken. Getrennt davon fragen sie nach der Herkunft von Königen, Fürsten, Bojaren und orthodoxen Bauern. 

Nicholas Roerich. Taubenbuch (Erinnerungen an die vier Könige), 1911.

David sagt, dass die Sonne aus dem Antlitz Gottes kommt, der Wind aus dem Heiligen Geist, der Regen aus den Tränen Christi und die Gedanken des Menschen aus den Wolken im Himmel. Dem Buch zufolge ist der Weiße Zar (d.h. der russische Zar) der wichtigste unter den Zaren. Er steht für den christlichen Glauben und für das Haus der Jungfrau (d.h. Russland). Die heilige Rus gilt als Mutter aller Länder. Es erzählt auch von Jerusalem und der Kreuzigung Jesu, erwähnt dabei aber auch recht volkstümliche Dinge, wie den Fisch „Kita“, den Vogel „Stratim“ und die Bestie Indrik.

Der dritte Teil schließlich erzählt von Davids Traum, in dem es zu einem Kampf zwischen Prawda (Wahrheit) und Kriwda (Abwege) kam. Prawda siegte und hatte das letzte Wort. Sie stieg in den Himmel zu Christus selbst auf, Kriwda aber zog über die Erde, wo sie Probleme und verirrte Menschen schuf. Und so erklärt Dawid ganz beiläufig das Wesen des Glaubens: „Wer nicht den Spuren Kriwdas folgt / ist auf dem Weg zum Herrn.“  

Wahrheit und Unwahrheit. Märchen für Kinder.

Kurz und sehr frei im Stil epischer Poesie erzählt Dawid sowohl die biblische Geschichte von der Schöpfung der Welt als auch von der Verführung Evas durch die Schlange.

Das Taubenbuch legte den Grundstein für die nationale orthodoxe Identität und das philosophische Denken. Später wird in verschiedenen Quellen Russland zu einem Heiligen Land erklärt werden. Und der bekannte Satz „Wir sind Russen und Gott ist mit uns“, der dem Militärführer Alexander Suworow zugeschrieben wird, sollte fast zu einem nationalen Leitspruch werden.

Der Inhalt des „Taubenbuches“ wurde mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Der Dichter Nikolai Sabolozki schrieb 1937 in seinem Gedicht „Taubenbuch", dass er seit seiner Kindheit die „halb vergessene Geschichte der Urgroßväter“ kenne. Und dass in diesem „geheimen Buch“ „die ganze Wahrheit der verborgenen Erde“ geschrieben stehe.

 

 

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