Joseph Brodsky: Warum entzogen die Sowjets dem Dichter die Staatsbürgerschaft?

Sergej Bermenjew (CC BY-SA 4.0)
Joseph Brodsky ist einer der größten russischen Dichter. Doch statt Ehrungen und Ruhm erwarteten ihn in der Sowjetunion Schikanen, eine psychiatrische Klinik, Verbannung und Ausweisung ins Ausland.

Am 4. Juni 1972 verließ Brodsky sein Heimatland für immer. Er war gezwungen zu gehen und ließ in Leningrad seine Eltern, die er nie wieder sehen sollte, die Liebe seines Lebens, seinen Sohn, und seine Freunde zurück.

Mithilfe eines amerikanischen Verlegers, der seine Arbeit bewunderte, wurde ihm ein Lehrauftrag an der Universität von Michigan angeboten. Im Jahr 1977 wurde er amerikanischer Staatsbürger, und zehn Jahre später, 1987, erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Was hat Brodsky getan, um die sowjetischen Funktionäre zu verärgern, die ihn zwangen, alles zurück zu lassen, was er liebte?

Der Mann, der nicht existiert

Entgegen den gängigen Vorstellungen war der Dichter keineswegs ein Kämpfer gegen das Sowjetregime, ein Dissident oder ein Russenhasser. Auch als er bereits vielen Jahre in den USA lebte, behielt er nicht nur seine Liebe und seinen Respekt für sein Heimatland bei, sondern positionierte sich auch als Anhänger des Staatswesens und nicht als Revolutionär.

Brodskys Weg war, wie viele meinen, ein Weg der Entfremdung. Wie Sergej Dowlatow, ein berühmter Schriftsteller und Freund Josephs, schrieb: „Er lebte nicht in einem proletarischen Staat, sondern in einem Kloster seines eigenen Geistes. Er hat das Regime nicht bekämpft. Er hat es nicht bemerkt.“ Der stille Nicht-Widerstand war keine prinzipielle oder bewusste Haltung, die der Dichter absichtlich entwickelte, aber für Brodsky war diese Art des Denkens und Fühlens organisch. Er selbst erinnerte sich, dass ihm im Alter von zehn oder elf Jahren ein Gedanke kam, der seinen gesamten weiteren Lebensweg weitgehend beschreiben könnte: „... Marx' Maxime Das Sein bestimmt das Bewusstsein gilt nur so lange, bis das Bewusstsein die Kunst der Entfremdung gemeistert hat; dann lebt das Bewusstsein selbständig und kann das Sein sowohl regeln als auch ignorieren.“ Für das sowjetische System erwies sich Brodskys Bewusstsein als zu unabhängig.

Joseph Brodsky und Sergei Dowlatow in der RR New York Gallery. New York. 1979.

Im Alter von 15 Jahren verließ er die Schule und arbeitete in einer Fabrik. Später sagte er, dass er einige seiner Mitschüler und Lehrer, die allgegenwärtigen Porträts von Lenin und Stalin und die ekelhafte Farbe an den Wänden einfach nicht ertragen konnte. Was ihn erschreckte, war, dass ihn dies überall erwartete – nicht nur in der Schule, sondern überall, wo es ebenso unpersönlich und bedeutungslos war. Später bedauerte er kaum, dass er die Schule nicht beendet oder eine Universität besucht hatte – wichtiger war, dass der Abbruch der Schule nach seinen eigenen Worten die erste freie Handlung seines Lebens war.

Junge Brodsky.

Brodskys innere Freiheit, die dem sowjetischen System so fremd war, spiegelte sich in seiner poetischen Sprache wider: Der Dichter kritisierte in seinen Werken nie die Behörden, aber die Behörden fühlten sich kritisiert. In einem Gespräch mit dem Journalisten Solomon Wolkow erklärte Brodsky dieses Phänomen folgendermaßen: „Der Einfluss des Dichters reicht sozusagen über seinen weltlichen Begriff hinaus. Der Dichter verändert die Gesellschaft auf indirekte Weise. Er verändert ihre Sprache, ihre Diktion, er beeinflusst den Grad des Selbstbewusstseins der Gesellschaft. Wie kann das geschehen? Die Menschen lesen den Dichter, und wenn das Werk des Dichters auf intelligente Weise vollendet wurde, wird sein Werk mehr oder weniger im Bewusstsein der Menschen verankert.“ Brodsky war der Meinung, dass die von den Behörden verwendete Sprache „mit dem Jargon marxistischer Traktate durchsetzt“ und „nicht russisch“ war – sie stellte das Ergebnis eines Konflikts zwischen Macht und Literatur dar, der von Misstrauen und Vorurteilen gegenüber einer unbekannten, unverständlichen poetischen Sprache geprägt war.

Asoziale, parasitäre Lebensweise

1963 veröffentlichte die Zeitung Wetschernyj Leningrad einen Artikel mit dem Titel Der Beinahe-Literat, in dem der Autor Brodsky scharf kritisierte: „...seine Gedichte sind eine Mischung aus Dekadenz, Modernismus und dem banalem Kauderwelsch“ und beschuldigte ihn, seine Heimat nicht zu mögen und „einen Plan des Verrats auszuhecken“. Der Artikel schließt mit der Forderung nach einer Bestrafung Brodskys wegen parasitärer Lebensweise, was damals eine Straftat darstellte.

Der Prozess gegen Joseph Brodsky.

Die Definition des Begriffs parasitärer Lebensweise war im Gesetzestext sehr vage gehalten und konnte so auf jeden angewendet werden, der den Behörden nicht gefiel. Und diese Gelegenheit wurde genutzt: Brodsky wurde verurteilt und verbrachte anderthalb der fünf Jahre seiner Verbannung in dem Dorf Norenskaja in der Region Archangelsk. Dank des großen öffentlichen Aufschreis, der durch den Versuch der Behörden ausgelöst wurde, etwas gegen den unerwünschten Dichter zu unternehmen, wurde er freigelassen. Der Dichter wurde sowohl von seinen Landsleuten als auch von besorgten Menschen im Ausland unterstützt. Ende 1964 hatte die ganze Welt dank französischer und englischer Veröffentlichungen von seinem Prozess erfahren. Aber Brodsky konnte nirgendwo hin zurückkehren. Es war fast unmöglich, ihn in das sowjetische System einzugliedern. Wie vor seiner Verhaftung beschäftigte er sich mit Übersetzungen, Kindergedichten und erhielt gelegentlich Geld dafür, dass er seine Gedichte in interessierten Kreisen vortrug.

Joseph Brodsky im Exil in der Region Archangelsk, 1965.

Doch der in Ungnade gefallene Dichter wurde im Ausland veröffentlicht – 1970 erschien sein Buch Ostanowka w pustynje (dt.: Zwischenstopp in der Wüste) in New York. Es enthielt 70 Gedichte, mehrere Poeme und Übersetzungen. Der Gerichtsprozess und eine Kampagne zu seiner Verteidigung machten Brodsky im Ausland recht bekannt, so dass er Einladungen aus verschiedenen Ländern erhielt: Israel, Italien, Tschechoslowakei, England.

Exil

Als Jude hatte Brodsky das Recht, repatriiert zu werden. Gleichzeitig wussten die Behörden nicht, was sie mit diesem seltsamen Mann tun sollten: Er konnte nicht inhaftiert werden, er konnte nicht in den Schriftstellerverband aufgenommen werden, und seine Gedichte konnten nicht veröffentlicht werden. In dem streng systematischen Land erwies sich Brodsky als ein Mann außerhalb des Systems: Er passte einfach nicht in das sowjetische Leben, denn er existierte für sich allein. Das System betrachtete diese Art von Menschen als schädlich und gefährlich.

Im Jahr 1972 wurde Brodsky zur Visastelle eingeladen und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es besser sei, die Einladung zu nutzen und auszureisen. Brodsky schrieb über diese Episode: „Der Polizist wechselt vom höflichen Sie zum Du: Ich sage Dir was, Brodsky. Du füllst jetzt dieses Formular aus, schreibst einen Antrag und wir treffen eine Entscheidung. – Und wenn ich mich weigere?, frage ich. Der Oberst antwortet: Dann wird eine heiße Zeit für dich beginnen.“ Brodsky stimmte zu – zwischen dem Anruf der Visastelle und der Abreise des Dichters nach Wien vergingen nur drei Wochen.

Flughafen Pulkowo. Joseph Brodsky vor seiner Abreise, 4. Juni 1972.

Die Propaganda stellte alle Emigranten als Vaterlandsverräter dar, und es war fast unmöglich, nach der Abreise in die Heimat zurückzukehren. Brodsky verließ das Land für immer und konnte nicht einmal seine Eltern treffen: Sie beantragten zwölfmal, ihren Sohn sehen zu dürfen, wurden aber jedes Mal abgewiesen. Die Eltern des Dichters starben, ohne ihn je wieder gesehen zu haben. Nach ihrem Tod und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems wollte Brodsky selbst nicht mehr zurückkehren. „Aus mehreren Gründen verzichte ich darauf“, schrieb er. „Erstens: Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Zweitens habe ich jetzt, da ich diesen Heiligenschein habe, Angst, dass ich ein Objekt verschiedener Hoffnungen und positiver Gefühle werden könnte. Und ein Objekt positiver Gefühle zu sein, ist viel schwieriger, als ein Objekt des Hasses zu sein. Drittens: Ich würde es hassen, mich in der Position von jemandem wiederzufinden, dem es besser geht als den meisten.“

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