Wie lebten alleinstehende Frauen im alten Russland?

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Alleinlebende Frau in einem russischen Dorf mussten einigen Herausforderungen standhalten. Der Tod ihres Mannes machte sie zu einer Witwe, die nicht immer in der Lage war, wieder einen Partner zu finden. Oder man heiratete gar nicht erst und war damit eine „alte Jungfer“. Wie wurden alleinstehende Frauen behandelt und hatten sie es im zaristischen Russland leicht?

Es war Frauen verboten, einen einzelnen Ohrring zu tragen, einen Zopf zu flechten, die Ordnung „paarweiser“ Gegenstände zu verändern. Der russische Aberglaube besagte, dass eine Frau, die sich nicht an diese Regeln hielt, ledig bleiben konnte (wenn sie noch ein Mädchen war), und wenn sie verheiratet war, Gefahr lief, zur Witwe zu werden.

Die Einsamkeit einer Frau auf dem Dorf war eines der schwersten Schicksale, denn ein Bauernhaushalt brauchte mindestens zwei Personen, um über das Jahr hinweg zu überleben. Aber natürlich gab es viele einsame Frauen. Was wissen wir über ihr Leben in der Zeit von etwa vom sechzehnten bis zum späten neunzehnten Jahrhundert?

Witwen

Witwe zu sein, bedeutete, wie man im Dorf zu sagen pflegte, „lebendig begraben zu werden“. In der Welt der russischen Bauern wurde das Erwachsenenleben für Männer und Frauen erst mit der Heirat erreicht. Eine erwachsene Frau, die ihren Mann durch einen Krieg, eine Seuche oder einen Unfall verlor, nahm sofort einen anderen Status ein - rechtlich, wirtschaftlich, sozial und rituell.

Nach dem Tod ihres Mannes musste die Witwe bis zu einem Jahr länger Trauer tragen als alle ihre Verwandten. Für diese Zeit war eine spezielle Tracht vorgesehen:  Die Trauerkleidung war weiß und nur an den Rändern mit einem roten Streifen bestickt. Zu dieser Zeit hatte eine Frau mehrere „Trauer-Garderoben“ zum Wechseln - für das Haus, für den Weg ins Dorf und für die Kirche. 

Hatte sie weniger als ein Jahr mit ihrem Mann gelebt und waren keine Kinder aus dieser Ehe hervorgegangen oder handelte es sich um dabei nur um Mädchen, ging die Frau zurück in ihr Elternhaus. Eine Witwe und ihre Jungen blieben in der Familie ihres Schwiegervaters, wo sie in der Regel nicht geachtet wurde. Aber niemand hielt sie dort fest, und es gab Fälle, in denen Witwen weggingen und ihre Kinder in der Obhut der Familie ihres verstorbenen Mannes zurückließen.

Frauen über 40 Jahre, die verwitwet waren und keine Kinder hatten, ließen sich getrennt nieder. Sie wurden, wie alle Witwen im Allgemeinen, von der Dorfgemeinschaft mit Geld unterstützt. Man war der Ansicht, dass die Belange der Witwen denen der Waisen gleiche. Es war üblich, Witwen und Waisen zu unterstützen, nicht nur mit Geld: Die Hilfe bestand auch darin, Brennholz für den Winter zu hacken, Wasser zu holen, Getreide zu ernten und zu mahlen. Bei all diesen Dingen halfen Freunde und Nachbarn den Witwen, besonders denen, die allein oder mit kleinen Kindern lebten. Es war eine schreckliche Sünde im Dorf, Witwen zu bedrängen, besonders solche mit Kindern. Wer sich an Witwen vergriff, wurde hart bestraft.

Selbst wenn eine Witwe allein blieb, hatte sie nach russischem Recht immer Anspruch auf einen Teil des Vermögens. Welcher Teil das war, hing von der Anzahl der gemeinsam gelebten Jahre ab. Eine ältere Witwe erhielt den Besitz ihres Mannes und sein Haus (oder sogar sein Gehöft, wenn die Familie wohlhabend war). Durch das Testament ihres Mannes oder durch den Brauch, wenn er keine Brüder hatte, erbte die Witwe oft auch Immobilien und Gewerbebetriebe (die auch im Besitz von Bauern sein konnten), über die sie dann in ihrem eigenen Namen verfügte. Aus diesem Grund gab es im vorrevolutionären Russland so viele Unternehmerinnen.

Eine Witwe, die mit ihren Kindern zusammenlebte und ihren Haushalt alleine führte, hatte einen angesehenen Status als Mutter der Familie. Sie nahm als Hausherrin an der Dorfversammlung teil und hatte eine Stimme bei Wahlen. Sie hatte das Recht, einen alleinstehenden Mann zu heiraten. Sie konnte auch getrennt leben und von ihren Söhnen Unterhalt erhalten.

Nach einem Jahr der Witwenschaft konnte eine Witwe, insbesondere wenn sie jung und kinderlos war, wieder heiraten. Dies wurde sofort nach dem Tode des Mannes bedacht. Zum Beispiel gab es den Brauch, den Hemdkragen des Verstorbenen nicht zuzuknöpfen oder seinen Gürtel nicht zu binden, um früher wieder heiraten zu können. Witwen konnten im Alter von 40 oder 50 Jahren heiraten. Wenn eine Frau jedoch zum zweiten Mal heiratete, gab es keinen Junggesellinnenabschied, und die Braut ging unverschleiert zur Trauung. Bei solchen Ehen gab es keine Mitgift und keine großen Feiern; nur enge Verwandte kamen zusammen. 

„Wjekowuchy“  - alte Jungfern

Es gab junge Frauen, die es nicht geschafft hatten, eine Familie zu gründen. Die Eltern hielten es zum Beispiel für unpassend, die jüngere Tochter vor der älteren zu verheiraten. Solange die ältere noch einen Bräutigam suchte, befasste sich die jüngere noch gar nicht mit dieser Frage, und so konnte es passieren, dass sie zu einer „alten Jungfer“ wurde. Natürlich gab es auch Mädchen, die einfach keinen Mann finden konnten, der ihnen gefiel. Diese wurden von der bäuerlichen Gesellschaft sehr hart behandelt.

Wer nie heiratete, wurde mit verschiedenen Schimpfnamen belegt, einer davon war „Wjekowucha“. Ein solches Mädchen konnte sogar von ihren Eltern auf einem Schlitten durch das Dorf gezogen und auf diese Weise „angeboten“ werden. Wenn eine Familie interessiert war, konnte die Tochter ihr „per Handschlag“ übertragen und die Ehe schon am nächsten Tag vollzogen werden.

Eine „alte Jungfer“ zu bleiben, galt im Dorf als Schande: Eine solche Frau hatte ihr Fruchtbarkeitspotenzial nicht ausgeschöpft. Selbst Hinken, Schielen oder ein Buckel wurden nicht als Hindernis für eine Heirat angesehen.

Wenn die Heirat scheiterte und das Mädchen über 25 Jahre alt war, wurde es nicht mehr zu den Feiern junger Leute eingeladen, und es wurde ihr verboten, ein Mädchenkleid zu tragen. Sie trug von nun an dunkle Kleidung, wie sie von Witwen und alten Frauen getragen wurde. Eine „Wjekowucha“ lebte in der Regel getrennt von ihrer Familie in einem separaten Haus, wo sie ihren eigenen Haushalt führte.

Trotz ihrer in vieler Hinsicht  benachteiligten Stellung kamen Witwen und „alten Jungfern“ im Dorf bestimmte Rollen als Trägerinnen körperlicher und geistiger Reinheit zu. Als solche erfüllten sie viele rituelle Funktionen - vor allem transzendente, die mit dem Übergang in eine andere Welt zusammenhingen. Als Symbole der Leere und Unpaarigkeit nahmen Witwen und „Wjekowuchy“ nicht an Hochzeiten, Geburten und Taufen teil. Ihnen kamen dafür bestimmte Aufgaben in Ritualen und bei der Totenwaschung zu, sie hielten die Totenwache bis zur Beisetzung und pflegten und schützten im Allgemeinen die Bestattungsbräuche. 

Viele „Wjekowuchy“ und Witwen wandten sich, nachdem sie über Jahre in diesem Status gelebt hatten, in ihrem Alter dem medizinischen Heilwesen und der Hexenkunst zu. Es gab aber auch Frauen in russischen Dörfern, die schon als Kinder beschlossen, allein zu leben.

„Tschernitschki“

Die „Tschernitschki“ waren Mädchen, die ihr Leben in den Dienst an Gott eingeschlagen hatten. Das Wort „tschernitschka“ ist weiblich und leitet sich von dem Wort „tschernjez“ ab, das einen Mönch, eine Novizen bezeichnete, der zum „schwarzen“ (zölibatären) Klerus gehörte. Um eine „Tschernitschka“ zu werden, musste ein Mädchen gleich nach Erreichen des heiratsfähigen Alters - wenn das Mädchen zu den Versammlungen und Festen der Dorfjugend eingeladen wurde - verkünden, dass sie nicht heiraten wollte. Dies konnte aufgrund der besonderen Frömmigkeit des Mädchens geschehen oder aufgrund eines Gelübdes, das die Eltern abgelegt hatten.

Wenn das Mädchen seinen Wunsch äußerte, musste es all seine farbenfrohen Jungfernkleider ablegen und dunkle Kleidung tragen, wie eine „Wjekowucha“ oder eine Witwe. Auch der Zopf wurde symbolisch abgeschnitten.

Die Familie richtete der „Tschernitschka“ ein eigenes Zimmer in ihrem Hof ein (es wurde wie  im Kloster „Zelle“ genannt), in dem sie lebte, ihren Haushalt führte und nur Fastenspeisen zu sich nahm. Die Hauptaufgaben der „Tschernitschka“ im Dorf waren Beerdigungsriten. Sie wurde hinzugezogen, beim Toten Psalmen zu lesen, die Leichen zu kleiden und zu waschen. Anders als beispielsweise „Wjekowuchy“ wurden „Tschernitschki“ Respekt und Ehrfurcht entgegengebracht. Eine solche Frau opferte gewissermaßen ihre Fruchtbarkeit und Lebensfunktionen für den Herrn und verwandelte ihr Leben in einen Dienst an Gott.

Die „Tschernitschka“ bestritt ihren Lebensunterhalt mit den einfachen Zuwendungen, die ihr die Angehörigen der Verstorbenen zukommen ließen. Sie schenkten ihr auch Lebensmittel, Kleidung und andere Dinge. Ihr wichtigster Aufgabenbereich aber bestand in gewissen kirchlichen Diensten für Priester und Diakone. Sie kannten den Ablauf des Gottesdienstes und die Gebetstexte gut. Außerdem konnten sie den Dorfkindern das Lesen und Schreiben beibringen. Wenn sie ein reifes Alter erreicht hatten, konnten die „Tschernitschki“ zu vollwertigen Nonnen werden. Im alten Russland glaubte man, dass nur sündlosen Frauen, die sich von klein auf dem Herrn gewidmet hatten, der Weg einer echten Nonne offenstand.