Warum nahmen russische Priester an heidnischen Ritualen teil?

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Auf dem russischen Land hatte der Priester viele Aufgaben: Er war Arzt, Landwirt, Lehrer und Staatsbote. Weniger bekannt aber ist, dass er manchmal auch an heidnischen Bräuchen mitwirken musste.

„Der Tau des heiligen Georg bewahrt vor dem bösen Blick, vor sieben Krankheiten“, sagten die russischen Bauern, die dem Morgentau, der am Georgstag (23. April nach altem oder 6. Mai nach neuem Kalender) gesammelt wird, seit jeher besondere Bedeutung beimaßen. An diesem Tag öffnet sich die Erde zum ersten Mal, und der Tau des Heiligen Georg, das „heilige Wasser“ der heidnischen Zeit, galt als heilend. Die Bauern baten oft ihren Dorfpfarrer oder Küster, sich an diesem Tag morgens über den Dorfacker zu werfen, sich über die Wintertriebe zu wälzen, „damit die Garben schwer werden“. „Weigerten sich die Geistlichen, wurden sie niedergezwungen undgewaltsam über den Boden gerollt“, schreibt die Historikerin Tatjana Agapkina.

Dorfpfarrer und Bauern

Der Dorfpfarrer musste Wege finden, um in Frieden und Harmonie mit seinen Nachbarn zu leben. Dabei wurden seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Priester nur noch aus dem Klerus rekrutiert: Die Weihe von Bürgern und Bauern wurde durch ein Dekret der Synode von 1774 abgeschafft. Seit den 1760er Jahren war der Klerus von allen Steuern und Abgaben an den Staat befreit, mit Ausnahme der Führung des metrischen Buches über Geburten (Taufen), Sterbefälle und Eheschließungen. 

Die Priester wurden vom Heiligen Synod für die verschiedenen Dörfer und Siedlungen ernannt. Der Priester in einer Siedlungsgemeinschaft kam in der Regel von außerhalb, und es war eine der schwierigsten Aufgaben, sich das Vertrauen der Gemeinde zu erarbeiten.

Von allen Dorfbewohnern wurde der Priester am meisten gefürchtet und geachtet. Viele von ihnen baten ihn um seinen Segen, wenn sie ihm begegneten. Aber auch für die Bauern hatte der Dorfpfarrer in vielen Belangen eine große Bedeutung. Wie Erzpriester Alexander Rosanow (1825-1885) in seinen „Aufzeichnungen eines Dorfpfarrers“ schrieb, ist ein Bauer „tagsüber mit Arbeit beschäftigt, besonders im Sommer, und hat keine Zeit, einen Priester zu einem Kranken zu rufen; deshalb fährt er meist nachts los, um ihn zu holen, ohne Rücksicht auf das Wetter“. 

Es ist nicht nur eine schwere Sünde, einem Sterbenden die letzte Ölung zu verweigern, sondern auch ein grober Verstoß gegen die Kirchenregeln. Doch oft haben ältere Menschen das Gefühl, dass sie diese Welt schon sehr bald verlassen werden. Deshalb erklärt Pater Alexander: „Der Priester sollte zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jedem Wetter die erforderlichen Sakramente zu erteilen (Taufen, Beichten und dergleichen) bereit sein, auch wenn er selbst krank ist. In jedem Amt gibt es eine bestimmte Arbeitszeit und Ruhestunden. Für einen Priester gilt dies nicht.“

Der Dorfpfarrer war oft nicht wohlhabender als die Bauern, denn auch sein Haupteinkommen stammte aus dem Ackerbau. Wie Jelena Panfilowa in ihrem Artikel „Die materielle Stellung des Gemeindepfarrers im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“ darlegt, waren die Bezüge des ländlichen Klerus miserabel: „Nach der so genannten „durchschnittlichen Vergütung“ verdiente ein Priester 300 Rubel, ein Diakon 150 Rubel und ein Psalmsänger 100 Rubel im Jahr. Zum Vergleich: 1913 betrug der Lohn eines einfachen Arbeiters 20 Rubel im Monat. Umgerechnet in die heutige Währung sollte der Priester 30-80 Tausend Rubel pro Jahr erhalten, aber selbst dieses Geld wurde nicht immer ausgezahlt.

Der Priester erhob daher ein Entgelt für Gebete für die Genesung einer bestimmten Person, für Gedenkfeiern, für Vierzigjährige und so weiter. Die Höhe des Betrags hing davon ab, wie beliebt der Priester bei der Gemeinde war. Natürlich musste der Priester auch für Hochzeiten und Beerdigungen bezahlt werden, und diese Einkünfte waren die bedeutendsten.

Eine reiche Gemeinde hatte einen reichen Pfarrer. In durchschnittlich begüterten und ärmlichen Dörfern war es keine Seltenheit, dass ein Pfarrer und eine Frau selbst pflügten, handwerklich tätig waren oder eine Bienenzucht betrieben. Einige überließen den Bauern ihre Parzellen, deren Erzeugnisse sie im Gegenzug besteuerten. Ein Priester erhielt auch an großen Kirchweihfesten und sogar anlässlich heidnischer Feste regelmäßig Geschenke von der Gemeinde. Im Gouvernement Kursk gab es zum Beispiel den Brauch des „Weihnachtssingens“ des Pfarrers, bei dem dieser durch die Hütten ging und Weihnachtsgeschenke in Form von Lebensmitteln einsammelte.

Aber für einen solchen armer Priester war sein Dorf bereit, alles zu geben. Die Bauern schätzten die positiven Eigenschaften solcher Pfarrer sehr, insbesondere, dass man jederzeit und bei jedem Wetter bei ihm Gehör finden konnte. Konnte man ihm kein Pferd schicken, ging er zu Fuß zur Salbung eines Kranken. Er verlangte kein Geld von den Armen, er bot ihnen seine Dienste auf Pump an. Mit ihm konnte man ein Glas Wodka trinken, und er lehrte die Kinder das Gesetz Gottes. Der Staat und der Landadel, die der Dorfpfarrer ebenfalls geistlich  betreut, brauchten aber noch etwas anderes von ihm.

Dorfpfarrer und Staat

Ab der Regierungszeit von Nikolaus I. wurde der Priester mit neuen Aufgaben betraut. Die Regierung sah in ihm einen Landwirt, Dorflehrer und Arzt. Auch die von Kurpfuschern enttäuschten Bauern suchten Rat beim Priester - Landärzte gab es bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht. Der Dorfpfarrer war gebildet, er las Zeitungen.

Ein Priester musste auch metrische Bücher führen, und mit dem Aufkommen staatlicher Statistiken verschiedene Informationen liefern - über die Anzahl der Geburten, der unehelichen unter den geborenen Kindern, wie viele mit Behinderungen zur Welt kamen, welches Geschlecht, wie viele Ehen, Unverheiratete, Witwen, usw. es gab. Der Priester musste auch das Wetter beobachten, mit Barometer und Thermometer ausgestattet sein und täglich Aufzeichnungen führen. Im Falle von Epidemien und Viehsterben war es Aufgabe des Pfarrers, die Seuchenbekämpfung zu überwachen. Auch die Feuerwehr erwartete von ihm, dafür zu sorgen, dass in jeder Hütte ein Kübel Wasser und ein Eimer Sand standen. Der Pfarrer war außerdem der einzige Psychologe des Dorfes, ein Schlichter bei Konflikten zwischen Eheleuten und Nachbarn.

Die Weigerung des Pfarrers, den Anweisungen des Staates Folge zu leisten, zog eine Beschwerde beim Konsistorium, dem Leitungsorgan der Kirche, nach sich. Dieses schickte ein Papier mit dem Vermerk „zur sofortigen Ausführung“. Es hatte keinen Sinn, mit den Diözesen zu streiten - der Bischof hatte mehr Macht über den Klerus als der Zar über seine Beamten, und er konnte einen ungehorsamen Priester leicht exkommunizieren.

Was aber, wenn die Geduld des Priesters wegen der ständigen Bitten und Sorgen der Bauern am Ende war? Man musste schließlich noch die Trinker ermahnen, zuweilen die Männer auf‘s Feld treiben. Bei einer schlechten Ernte stellte der Grundbesitzer zuerst den Priester zur Rede. Dem strengen Priester warfen sie sofort vor: „Du hast es auf das Geld unseres Bruders abgesehen und treibst ihn aufs Feld, aber die [Gebete] liest du nicht vollständig". Hinter dem Rücken des „unfreundlichen“ oder einfach müden Priesters nannten Männer und Frauen den „Priester“ einen „Popen“.

Dorfpfarrer und Heidentum

Im Unterschied zum „guten“ Dorfpfarrer, der den Bauern zur Seite stand, waren Geistliche, die besonders gebildet waren und die Statuten der Kirche befolgten, bei den Bauern nicht besonders beliebt. Diese Priester lehnten das Bierbrauen, die gemeinsamen Mahlzeiten bei kirchlichen Festen ab, sie bekämpftem das Heidentum und die Verehrung heiliger Steine, Bäume und dergleichen. Sie verlangten von den Gemeindemitgliedern Kenntnis der Gebete und Riten und gingen streng gegen Gotteslästerung vor.

Doch selbst in einem solchen Fall galt es als schwere Sünde, einen Priester zu beleidigen und zu verfluchen. Der Volksglaube verband das Bild des christlichen Pfarrers mit dem eines Magiers aus alten Zeiten - man glaubte, dass ein geweihter Priester, der die Texte und Riten kannte, besondere Kräfte besaß, die es ihm erlaubten, das Leben selbst zu beeinflussen. Ein altes Omen besagt, dass „eine Begegnung mit einem Geistlichen, insbesondere mit einem Priester, Glück bringt oder Unglück auf dem Weg verspricht“. Sogar in Samuil Marschaks Gedicht „Omen“ (Primety), das dieser bereits 1949 geschrieben hatte, spekuliert ein Mädchen namens Walja, dass sie eine Eins im Examen bekommt, wenn sie den Priester auf der Straße nicht antrifft, denn das würde Unglück bringen.

Erinnern wir uns: Der Pfarrer im Dorf begleitete alle Geburten und Todesfälle. Er segnete Eheschließungen und taufte Kinder. Man glaubte, dass er durch Gebete Krankheiten „heilen“ konnte. Im Allgemeinen besaß er alle Merkmale eines Magiers oder Priesters, und deshalb baten die Bauern den Pfarrer um Teilnahm an vielen heidnischen Ritualen und versprachen ihm dafür großzügige Geschenke. So überredeten sie ihn etwa, sich über den Tau zu wälzen. „Dieser Brauch des „Wälzens“ ist nicht nur ein Ausläufer des Wälzens von Geistlichen (Magiern) als eine Form der bäuerlichen Magie“, schreibt der berühmte Philologe Alexander Bobrow in seinem Artikel „Das Wälzen über Tau als heidnisches Sakrament“, sondern auch Ausdruck eines gegenwärtigen religiösen Kampfes, einer gewaltsamen Einbindung eines Vertreters des anderen, christlichen Glaubens in die heidnischen Riten, die im Volk weiterhin fortbestehen. Und diese Tatsache ist nicht die einzige.

Dem Priester wurde die Fähigkeit zugeschrieben, die Grenzen zwischen den Welten zu „öffnen“. Litt also eine Frau in einem Dorf an einer schweren Geburt, wurde der Dorfpfarrer gebeten, in der Kirche die Heiligen Pforten zu öffnen, damit die Geburt leichter gelingen würde. Natürlich konnten die Bauern auch zum Priester gehen, wenn sie glaubten, dass ein Fluch auf sie gelegt worden war. Der „strenge“ Priester belehrte sie über den Aberglauben und verlangte Buße, während der „wohlgesonnene“ Priester „reinigende“ Gebete las und sie mit Gott gehen ließ. 

Manchmal wurde der Priester sogar aufgefordert, Regen herbeizurufen: er musste zum Beispiel mit Wasser übergossen oder in einen Fluss getaucht werden (typische „sympathetische Magie“). Wenn ein Hexenmeister im Dorf starb, wurde der Priester zu einem Ritual hinzugezogen, bei dem ein Espenpflock in den Leichnam getrieben wurde, damit er nicht aus dem Sarg auferstehen konnte. Ein Priester konnte auch gebeten werden, anwesend zu sein, wenn Selbstmörder aus der Erde gezogen und ins Wasser geworfen wurden - ein beliebter Ritus gegen die Dürre. Natürlich stand es der Diözese frei, die Teilnahme an solchen Ritualen streng zu bestrafen, dafür aber wären die Bauern auch nicht schuldig geblieben, vorausgesetzt natürlich, es regnet und die Ernte ist gut. Aber selbst wenn nicht, geschieht Gottes Wille, hätte der Priester gesagt, dessen Hauptaufgabe es schließlich war, Frieden und Harmonie im Dorf zu erhalten.