Warum wurde Kaugummi in der UdSSR verboten?

Kira Lisitskaya (Photo: imago stock&people, Alexandr Yakovlev/Global Look Press; Unsplash)
Kaugummi war ein Kultphänomen unter sowjetischen Jugendlichen. Doch die Behörden waren kategorisch gegen das amerikanische Produkt.

Dem Kaugummi erging es wie vielen anderen Dingen, die den sowjetischen Vorstellungen nicht entsprachen – er wurde zwar nicht offiziell verboten, aber gemissbilligt.

Für die sowjetischen Kinder und Jugendlichen wurden Kaugummis zu einer echten „verbotenen Frucht“. Sie wollten sie unbedingt haben und waren bereit, alles dafür zu tun. Einige bettelten sogar bei Ausländern um Kaugummi, auch auf die Gefahr hin, von den Ordnungskräften erwischt zu werden.

Feindliches Produkt

In der Sowjetunion wurde bis in die 1970er Jahre keine Kaugummis hergestellt. Nur wenige, die im Ausland gewesen waren, kannten sie und hatten sie sogar probiert: das diplomatische Personal und dessen Familienangehörigen, die Nomenklatura und Dolmetscher. Aber der normale Sowjetbürger kannte sie nicht. Das Kauen von Kaugummi wurde jedoch von den sowjetischen Ideologen als Ausdruck der Sinnlosigkeit des kapitalistischen Systems und als Symbol einer feindlichen amerikanischen Kultur verurteilt.

Als der Eiserne Vorhang nach Stalins Tod etwas durchlässig wurde, sickerten langsam Elemente der westlichen Kultur in die sowjetische Realität ein – 1955 durften sowjetische Bürger sogar ins Ausland reisen (auch wenn meist nur in das „sozialistische Lager“). Diese Möglichkeit war nur wenigen vorbehalten, und die Reise war an eine Reihe von Bedingungen geknüpft: tadelloser Leumund, Referenzen, ein umfangreicher fünfseitiger Fragebogen mit persönlichen Angaben und sogar ein ärztliches Attest.

Sowjetische Touristen in Versailles, 1. Mai 1969.

Der Kunsthistoriker Michail German erzählte später: „Ein ärztliches Attest habe ich nur durch Bestechung bekommen. Selbst gesunden Menschen wurde es nur sehr widerwillig ausgestellt. Man konnte für den Militärdienst tauglich sein, [...] aber nicht für eine Auslandsreise. Wenn ein Sowjetmensch ins Ausland reisen durfte, konnte er allerdings nur eine recht begrenzte Geldsumme mitnehmen und in harte Währung umtauschen. Jeder versuchte, damit etwas Wertvolles zu kaufen, z. B. Kleidung, Haushalts- oder Unterhaltungstechnik, während für Kaugummi oder andere Kleinigkeiten kaum Geld übrig blieb, so dass er nicht in so großen Mengen mitgebracht wurde.

Vergiftete Kaugummis und Rasierklingen

Es ist nicht genau bekannt, wann der Kaugummi in der Sowjetunion erstmals massenhaft eingeführt wurde. Wahrscheinlich wird die erste Welle der Popularität mit den IV. Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1957 in Moskau in Verbindung gebracht. Die vielen ausländischen Besucher der Hauptstadt verschenkten manchmal Kaugummi als Gastgeschenk und erhielten im Gegenzug sowjetische Souvenirs, wie z. B. Abzeichen. Wenn aus einem freundschaftlichen Austausch eine kommerzielle Beziehung wurde, nannte man das bereits farzówka (dt.: Schwarzhandel) – Kauf und Verkauf oder Tauschhandel mit Ausländern. Auf diese Weise gelangten vor und nach dem Fest eine ganze Reihe westlicher Haushaltsgegenstände in die UdSSR. Händler konnten wegen Spekulationen oder Devisenhandel inhaftiert werden, aber das hielt die sowjetische Jugend nicht auf.

Elektriker aus Finnland zeigt sowjetischen Kindern seine Abzeichen, 31. Juli 1957.

Der nächste Boom fand während der Olympischen Spiele 1980 statt.

Die Atmosphäre im Vorfeld war ziemlich angespannt, da die kapitalistischen Mächte die Spiele boykottierten und die sowjetischen Behörden mögliche Sabotageakte nicht ausschlossen. Der freie Zugang zu Moskau wurde gesperrt, und auch den Kindern wurde geraten, die Stadt zu verlassen, da gerade Sommerferien waren. Dennoch hielten es die Behörden für notwendig, die in der Stadt verbliebenen Einwohner zur Wachsamkeit aufzufordern.

Abschlussfeier der Olympischen Spiele 1980.

Es ist nun schwierig, die Quelle der Gerüchte zu ermitteln. In den Städten der UdSSR, in denen die Wettkämpfe stattfanden, verbreitete sich jedoch der Buschfunk, dass Milizbeamte angeblich in einige Schulen und Fabriken kamen, um zu warnen, dass es für Schüler bzw. Mitarbeiter gefährlich sei, mit Ausländern in Kontakt zu kommen, und dass der Kaugummi, den sie ihnen geben wollten, vergiftet oder sogar mit Rasierklingen gefüllt sein könnte. Sie berichteten von einem Schüler, der ein Geschenk angenommen hatte und im Krankenhaus landete. Es wurde auch betont, dass die Annahme eines Geschenks eine „Anbetung des Westens“ bedeute und dass der Empfänger des Geschenks nur wenige Schritte von der Rekrutierung durch ausländische Geheimdienste entfernt sei.

Es gab jedoch auch Jugendliche, die sich von den Drohungen und Verboten nicht beeinflussen ließen. Für viele wurde der Kaugummi zu einem Symbol für die Buntheit des westlichen Lebens – verlockend und unerreichbar. Darüber hinaus erhöhte das seltene Gut den Status unter Gleichaltrigen: In einem Interview mit der Zeitung Pionerskaja Prawda gestand ein Schüler Ende der 1970er Jahre, dass er unter anderem Kaugummi brauchte, um von den Mitschülern anerkannt zu werden.

Unterleutnant Iwan Sisonenko mit Jungen, 1967.

Einheimischer Kaugummi

Nach einem tragischen Vorkommnis in einem Stadion im Moskauer Stadtbezirk Sokolniki im Jahr 1975 begann die Sowjetunion mit der Herstellung eigener Kaugummis. Damals spielten die Junioren-Eishockeymannschaften der UdSSR und Kanadas in dem Stadion. Der Sponsor der kanadischen Mannschaft war Wrigley, Produzent von Kaugummis, die einige der Fans bei dem Spiel zu erhalten hofften. Nach dem Spiel stürmten die sowjetischen Zuschauer zum Ausgang des Stadions, hinter dem sich die kanadischen Busse befanden. Der Ausgang war versperrt und im Stadion ging plötzlich das Licht aus. Einer Version zufolge wurde das Licht absichtlich ausgeschaltet, damit ausländische Journalisten den Ansturm der sowjetischen Jugendlichen auf den Kaugummi nicht filmen konnten. Aufgrund der blockierten Türen und der ausgeschalteten Beleuchtung kam es zu einer Massenpanik, bei der 21 Menschen ums Leben kamen. Dreizehn der Opfer waren nicht einmal 16 Jahre alt.

Sowjetischer Kaugummi.

Nach dem Vorfall in Sokolniki wurde 1977 in Eriwan, Armenien, der erste sowjetische Kaugummi auf den Markt gebracht. Es folgte die Produktion von Kaugummi bei Rot Front, einem der größten sowjetischen Süßwarenunternehmen. Erdbeer-, Orangen-, Minz- und Kaffeekaugummi kamen in Fünferpackungen in die Regale.

Bis zum Zusammenbruch der UdSSR war Kaugummi eine recht begehrte Ware im Schwarzhandel, aber mit dem Aufkommen der Massenproduktion begann die Aufregung um das einst so begehrte Attribut des westlichen Lebens zu verblassen. In den 90er Jahren, als importierte Waren den russischen Markt überschwemmten, ersetzte ausländischer Bubblegum schnell den sowjetischen Kaugummi, und Kinder und Jugendliche hatten einen neuen Gegenstand zum Tauschen und sogar zum Sammeln – die Bilder aus dem Turbo-Kaugummi. „Der Wert lag nicht im Kaugummi selbst – nach fünf Minuten war er völlig geschmacklos. Im Inneren des Kaugummis befanden sich allerdings Bildchen mit Autos und Motorrädern, mit denen alle Jungen etwas über die ausländische Autoindustrie lernten. Auf den sowjetischen Straßen gab es nur Wolgas und Ladas, aber auf den Kaugummi-Bildern gab es alles vom Lamborghini und Bugatti bis hin zum Opel und Toyota“, erinnert sich Artur, der in den 1990er Jahren Kaugummibilder sammelte. Es gab damals sogar ein Spiel mit den Bildchen: Es wurden zwei Bildchen übereinander gelegt und mit der Handfläche darauf geschlagen – wenn sie sich umdrehten (das Papier war sehr leicht), bekam der Spieler beide Bilder. Es gab mehrere hundert verschiedene Turbo-Bildchen, und viele Leute wollten sie sammeln, so dass sie manchmal zu Einsätzen in anderen Spielen wurden.

Ein Verkäufer von ausländischem Kaugummi auf der Polizeiwache, 1. Juni 1990.

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