Das russische Volk hat bereits im Altertum im Chor gesungen. Die Menschen sangen sogar, als sie gefesselt und in den Kerker geführt wurden. 1860 machte Fjodor Dostojewski in seinem Roman Notizen aus dem Totenhaus die Leserschaft erstmals mit dem russischen Gefängnislied bekannt.
„In den Kasernen wurden Lieder gesungen. Die Trunkenheit ging bereits in sentimentalen Taumel über und die Lieder ließen Tränen in die Augen treten. Viele liefen mit übergeworfenem Pelzmantel mit ihren eigenen Balalaikas herum und schlugen mit übermütigem Blick die Saiten an. In einem der Bereiche wurde sogar ein Chor aus acht Personen gebildet. Er sang herrlich zur Begleitung von Balalaikas und Gitarren. Es wurden nur wenige reine Volkslieder gesungen. Die meisten der gesungenen Lieder waren das, was wir Arrestantenlieder nennen.“ So beschrieb unter anderem Dostojewski das Leben der inhaftierten Kriminellen in Sibirien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In seinem 1871 erschienenen Buch Sibirien und die Strafarbeit wies der Ethnograph Sergej Maximow darauf hin, dass es alte und neueste Arrestantenlieder gab. Die ersten stammten von Räuberliedern, die von verwegenen Burschen, herumstreunenden Kosaken, während der Eroberung der Wolga und Sibiriens komponiert wurden. Da Räuber von den Behörden verfolgt und gefasst wurden und oft in sibirischen Gefängnissen landeten (wie dem von Omsk, wo Dostojewski inhaftiert war), lebte die Räuberfolklore in der Gefängnisumgebung weiter. Viele Lieder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so Maximow, „haben wir nicht aus erster Hand (aus den Gefängnissen), sondern vielleicht aus zehnter (aus Dörfern, in denen alteingesessene freien Sibirier lebten) erhalten.“
Lenins Lieblingslied
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Arrestanten- und Kerkerlieder nicht nur im kriminellen, sondern auch im revolutionären Milieu beliebt. Wie Maxim Krawtschinskij in Die Geschichte des russischen Chansons darlegt, hatte sogar Lenin sein Lieblings-Arrestantenlied.
Es hieß Gequält von schwerer Gefangenschaft und war dem Andenken des Studenten Pawel Tschernyschew aus Samara gewidmet, der verhaftet wurde, weil er „ins Volk ging“. Nachdem er zwei Jahre unter Arrest verbracht hatte, erkrankte er an Tuberkulose und starb. Seine Beerdigung in St. Petersburg im Jahr 1876 wurde zu einer riesigen Anti-Regierungs-Demonstration.
Gequält durch harte Gefangenschaft,
Starbst Du einen glorreichen Tod.
Im Kampf für die Sache des Volkes
Legtest Du Dein Haupt ehrenvoll nieder.
Dieses Lied wurde von Grigorij Mattschet, einem Mitglied der Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja, im Jahr des Todes von Tschernyschew geschrieben und „ging ins Volk“.
Gorki und das Gefängnislied
1902 war das Gefängnislied zum ersten Mal auf der großen Bühne zu hören – am 18. Dezember wurde im Moskauer Kunsttheater Maxim Gorkis Stück Nachtasyl uraufgeführt. Es handelt vom Leben der Bewohner eines Obdachlosenheims und dort wird am Ende das Lied Die Sonne geht auf und unter gesungen – eines der berühmtesten Gefängnislieder jener Zeit. Der Erfolg des Stücks war unglaublich und schuf auf den Bühnen von Schaubuden und Kabarett-Bühnen – überall dort, wo populäre Lieder gesungen wurden – den Prototyp des Bosjaks, eines heruntergekommenen Habenichts.
Im Jahr 1903 veröffentlichte der König der Reporter Wlas Doroschewitsch sein berühmtes Werk über die Strafkolonie Sachalin, in dem es ein eigenes Kapitel Lieder der Strafkolonie gab. Dort heißt es unter anderem: „Die in Ketten liegenden Gefangenen sang aus Langeweile das Lied der sibirischen Vagabunden Miloserdnyje (dt.: Die Barmherzigen)... Aber was war das für ein Gesang! Es war, als würde jemand beerdigt, als käme der Trauergesang aus dem Kerker. Es war, als ob dieses Gefängnis, das mit seinen vergitterten Fenstern in die Finsternis blickte, ein Klagelied für die Menschen sang, die darin lebendig begraben waren.“
Und dann kam die Revolution von 1905, nach der Kerkerlieder in Sammlungen veröffentlicht werden durften. Im Jahr 1908 veröffentlichte der Musiker und Ethnograph Wilhelm Harteveld das Buch Lieder der Strafgefangenen. Lieder sibirischer Sträflinge, Flüchtlinge und Vagabunden, und die Lieder der Sträflinge kamen unter die Leute – nun konnten sie von jedem gesungen werden, der des Musizierens mächtig war. Harteveld selbst trug diese Lieder vor und die Aufnahmen wurden auf Schallplatten veröffentlicht.
Bereits 1909 hatte Harteveld im Saal der Moskauer Adelsversammlung Sträflingslieder vorgetragen. Doch sein Versuch, 1910 auf der Bühne des Eremitage-Theaters öffentlich aufzutreten, scheiterte – das Konzert wurde vom Moskauer Bürgermeister persönlich verboten.
Niemand konnte jedoch die Bühnenstars daran hindern, diese Lieder in ihren Programmen aufzuführen. Die Sonne geht auf und unter wurde von Fjodor Schaljapin gesungen. Die berühmten Chansonniers Sergej Sokolskij (Jerschow) und Stanislaw Sarmatow traten in der Gestalt eines heruntergekommenen Habenichts auf, und in ganz Russland entstanden Duette, Quartette und Chöre von „echten sibirischen Vagabunden“. Der Schriftsteller Nikolaj Nosow erinnerte sich: „Die Lieder, die das Quartett der sibirischen Vagabunden vortrug, entsprachen ganz der damaligen Zeit. Sie spiegelten die öffentlichen Stimmungen der vorrevolutionären Jahre wider.“
Wie Maxim Krawtschinskij schreibt, wurden zwischen 1906 und 1914 allein in Moskau und St. Petersburg mehr als hundert verschiedene Sammlungen von Räuber-, Bettler-, Sträflings-, Landstreicher- und Arrestantenliedern veröffentlicht.
In der Zwischenzeit entstand in den russischen Provinzen außerhalb der Ansiedlungsgrenze (in denen Juden dauerhaft leben durften) eine neue Banditen-Folklore. Da sie in ihren Rechten und wirtschaftlichen Möglichkeiten eingeschränkt waren, schlossen sich viele Juden kriminellen Kreisen an. Odessa war besonders reich an jüdischen Kriminellen. Die Juden brachten ihre eigene Musik, den Klesmer, mit ins kriminelle Milieu, die, vermischt mit russischen Arrestantenliedern, ein neues Genre hervorbrachte – das Blatnaja pesnja. Diese Ganovenlieder erlebten in der Sowjetunion ihre Blütezeit.