„Bedürftige brauchen weder High-Heels noch Cocktail-Kleider“

Eine besondere Geschäftsidee  - der kleine Second-Hand-Laden - sorgt für die Bedürftigsten der Gesellschaft.

Eine besondere Geschäftsidee - der kleine Second-Hand-Laden - sorgt für die Bedürftigsten der Gesellschaft.

Yuri Belinsky/TASS
Aus einer Not heraus und mit den Bedürfnissen ihrer Mitmenschen im Blick gründet Julija Titowa aus Sankt Petersburg ein Wohltätigkeitsgeschäft. In nur fünf Jahren sind drei weitere Läden und ein neuer Geschäftsbereich hinzugekommen. Es ist eine besondere Erfolgsgeschichte.

Auf den ersten Blick gleicht der kleine Laden in der Sankt-Petersburger Gorochowaja-Straße einer niedlichen Boutique, wie sie in Europa an vielen Ecken üblich sind: stilvoll eingerichtet, mit Liebe zum Detail und einem Hauch an Retro. Im Sortiment sind alte Bücher, Schallplatten, Frauenkleider aus längst vergangenen Zeiten, witzige Ohrenmützen und handgearbeitete Accessoires. Modebewusste Studentinnen und Hausfrauen besuchen das Geschäft, um sich etwas Ausgefallenes zu gönnen, Theater- und Filmregisseure finden hier die passenden Kostüme und Requisiten. Soweit ist das alles nichts Ungewöhnliches. Lediglich der Name des Ladens – Spasibo, zu Deutsch Danke – mutet da etwas seltsam an.

„Bei uns kann man wie in einer Schatztruhe alles finden, was das Herz begehrt. Vielleicht nicht heute, aber morgen oder ganz bestimmt in einer Woche“, sagt Karina, die Verkäuferin. Ein junger Mann probiert gerade einen Tweed-Mantel aus den 1980ern-Jahren mit einem Kragen aus Kaninchenfell an. Ob man so etwas heute noch trägt? Ihm steht er jedenfalls. In seiner Nähe stöbert eine Frau in den besten Jahren gedankenversunken durch einen Stapel Stoffhosen. Bezahlen müssen die Kunden für diese Vielfalt kaum etwas: 500 bis 600 Rubel, also rund sechs bis sieben Euro, kosten die Einzelstücke.

Kein Second-Hand von der Stange

Eine gewöhnliche Boutique ist der Laden eben nicht. Er ist Bestandteil eines Wohltätigkeitsprojekts. Der Gründerin des Projekts Julija Titowa kam die Idee, als sie selbst vor der Frage stand, wie man alte Kleidung sinnvoll weiterverwenden kann: „Bedürftige Menschen brauchen einfache und warme Sachen im guten Zustand – keine High-Heels oder Cocktail-Kleider“, sagt sie. Um in Sankt Petersburg Kleidung loszuwerden, müsse man weite Wege zurücklegen, was ziemlich unbequem sei. „Also dachte ich, es bräuchte ein System, dass es Menschen erlaubt, ihre Dinge problemlos abzugeben. Gleichzeitig sollen andere kostenlos oder für wenig Geld das finden können, was sie benötigen“, beschreibt Julija ihr Konzept.

Im Sortiment sind alte Bücher, Schallplatten, Frauenkleider aus längst vergangenen Zeiten, witzige Ohrenmützen, handgearbeitete Seife und Accessoires. Foto: Yuri Belinsky/TASS

Ein Second-Hand-Laden in einem feuchten Kellerraum, in dem Menschen sich durch Kleidungsberge wühlen müssen, kam für die Geschäftsfrau nicht in Frage. Als Vorbild hätten ihr altmodische Wohltätigkeitsgeschäfte gedient, die sie in London gesehen habe: Für die Menschen sei das nicht einfach nur Shopping, sondern irgendwie ein Erlebnis gewesen.

Das erste Spasibo-Lädchen eröffnete sie 2010. Heute gibt es bereits vier von ihnen. Eine weitere Filiale, die Kleiderspenden ausgibt, gehört ebenfalls zur Kette.

Wohltätigkeit mit Köpchen

Das wichtigste an Julija Titowas Ladenkette ist jedoch nicht die gemütliche Inneneinrichtung, sondern das System, mit dem die überflüssigen Sachen der Sankt-Petersburger eingesammelt werden. Kleidung und Gegenstände können an bestimmten Tagen in einem der vier Läden abgegeben werden. Wirklich bequem sind aber die in der ganzen Stadt an belebten Plätzen und Shopping-Centern aufgestellten Spasibo-Container.

Nach gründlicher Sortierung kommen rund 17 Prozent der Sachen in die Läden. Weitere 52 Prozent werden gespendet und 31 Prozent recycelt: „Irgendwann hatten wir einfach zu viel Kleidung mit Löchern, hartnäckigen Flecken und kaputten Reißverschlüssen“, sagt Andrej Anatoljewitsch, der Waren-Manager der Kette. „Daher haben wir uns entschlossen, eine eigene Weiterverarbeitung aufzubauen.“ Inzwischen müssen unbrauchbare Kleider nicht mehr auf der Müllhalde verwesen, sondern werden zu Fasern recycelt, die dann zu Matratzen, Polstern und Decken verarbeitet werden.

An erster Stelle steht der Mensch

Die Wohltätigkeit steht bei Spasibo, einem eigentlich kommerziellen Projekt, dennoch im Vordergrund. Aus allen Sachen werden zuerst gute und einfache herausgesucht, die von mittel- und obdachlosen Menschen benötigt werden. Vier Mal in der Woche können sich Bedürftige in einem extra für sie eingerichteten Zentrum kostenlos Kleidung aussuchen. Dies geht aber nur mit Voranmeldung – momentan beträgt die Wartezeit ganze zwei Monate. Auch Hilfslieferungen in Katastrophen- und Konfliktgebiete werden von Spasibo organisiert.

Die bisherige Bilanz von Spasibo:

- Vier Second-Hand-Läden

- Mehr als 30 Spasibo-Container

- Ein firmeneigenes Recycling-Programm

- 230 Tonnen an Spenden für Bedürftige und Wohltätigkeitsorganisationen wurden gesammelt

- 5 201 400 Rubel, rund 61 000 Euro, sind an Wohltätigkeitsprojekte geflossen

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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